Seelenbrand (German Edition)
an, die ihre Augen bereits geschlossen hatte. »Vor dem Pfarrhaus ... unten vor dem Kirchenportal und am Zugang zum Friedhof.« Marie gähnte herzhaft. »Na, Sie sind mir ja eine schöne Hilfe! Wir haben noch nicht mal angefangen, und Sie schlafen schon.«
Er kniete sich nieder und lüftete das weiße Küchentuch, das den Inhalt des von ihr mitgebrachten Weidenkorbes bedeckte. »Ah! Hühnchen!« Im zittrigen Schein der Kerzen wühlte er vorsichtig zwischen den kleinen Töpfen und Tellern herum. »Und hier ... Brot und Wein. Dann werden wir hier oben wenigstens nicht verhungern, auch wenn wir heute nacht nichts fangen sollten.« Hatte Marie ihn überhaupt gehört? Sie rührte sich nicht und saß immer noch mit geschlossenen Augen, nach hinten gelehnt, an der Wand. Pierre legte alles zurück, deckte das Tuch wieder darüber und trat schweigend an eine Fensteröffnung.
Mittlerweile war es stockdunkel. Ein kurzer Blick auf seine Taschenuhr. Kurz nach Mitternacht. Geisterstunde! Aber spätestens seit seiner Begegnung mit dem Kapuzenphantom in der Villa war er sicher, daß es sich hierbei nicht um ein Gespenst handeln konnte. Oder? Aber die Frage »Geist?« oder »nicht Geist?« war unbedeutend verglichen mit der Frage, die ihm seit dem Vorfall in der Kirche nicht mehr aus dem Kopf ging. Hatte Maria in Wirklichkeit zwei Jesuskinder? Zwillinge?
Er lehnte sich auf die Brüstung des Fensterlochs und sah in die Dunkelheit hinaus. Über die Konsequenzen, die sich daraus ergeben würden, wagte er gar nicht nachzudenken. Allein die Tatsache, daß er sich traute, eine solche Möglichkeit überhaupt in Betracht zu ziehen, war schon eine ungeheuerliche Sünde. So ungeheuerlich, daß ihn jeder Inquisitor dafür hätte brennen lassen. Das, was ihm nicht aus dem Sinn ging, war die reinste Ketzerei!Auch für einen Menschen des 20. Jahrhunderts! Verstieß er damit nicht auch gegen das direkte Gebot des Herrn: ›Du sollst dir kein Gottesbildnis machen, das irgend etwas darstellt am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde!‹?
Ein paar lärmende Zecher taumelten aus der Schenke und wankten in angeregter Unterhaltung die Straße entlang.
Es war ihm nie in den Sinn gekommen, an der Geschichte mit dem Jesuskind zu zweifeln. Solange er denken konnte, lag es in einer Krippe. Maria, Josef und die Tiere ... in jedem Jahr erschienen sie pünktlich unter dem Weihnachtsbaum. Jedes Kind kannte die Weihnachtsgeschichte. Sie war ein selbstverständlicher Teil seiner Erziehung und seines Lebens. Seine Eltern hatten sie ihm erzählt, und die wiederum hatten sie von ihren Eltern und diese von den ihrigen ... Seit Menschengedenken hatte diese Weihnachtsgeschichte Bestand. Niemandem wäre es wohl je in den Sinn gekommen, daran zu zweifeln. Warum auch? Und nun sollte ausgerechnet er derjenige sein, dem sich aus heiterem Himmel eine ganz andere Wahrheit offenbarte? Ausgerechnet er sollte mehr wissen, als seine Eltern, Großeltern und die vielen anderen Menschen.
Die lärmenden Zecher waren in der Dunkelheit vor Madame Paulines Pension stehengeblieben und lachten. »Good night!« Eine der Personen verabschiedete sich lautstark – ohne Zweifel dieser Engländer Higgins, der in der Pension wohnte –, während der Rest der Meute weiterzog. Sie bogen singend um die nächste Ecke und es war wieder still um ihn.
Er sah über seine Schulter zu Marie hinunter, die immer noch schlafend an der Wand lehnte. Der grauenhafte Anblick des toten Aushilfspfarrers und der Ratten, die an seinen Gebeinen genagt hatten, und – nicht zu vergessen – der ungewohnte Alkohol, hatten sie wohl mächtig erschöpft.
Vielleicht hat sich der alte Abbé diese Sache mit dem zweiten Jesuskind auch nur ausgedacht? Aber warum nur?
Unten auf der Dorfstraße war es ruhig geworden, und die meisten Lichter in den Häusern waren bereits verloschen. Irgendwo bellte ein Hund.
Was wäre denn – gottlob konnte niemand seine Gedanken hören –, wenn der alte Abbé bei der Renovierung der Kirche etwas entdeckt hätte, das ihn erst auf diese Idee gebracht hatte?Immerhin lag seine Pfarrei im Zentrum dieser Ansammlung von Templerburgen und Ordenshäusern, und deren Verbindung nach Jerusalem lag ja auf der Hand. Vielleicht hatten sie etwas aus dem Heiligen Land mitgebracht und hier versteckt ... und der alte Abbé hatte es dann zufällig bei der Renovierung seiner Kirche wiederentdeckt. Etwas, das ihn glauben ließ ... daß die Weihnachtsgeschichte neu erzählt werden
Weitere Kostenlose Bücher