Seelenbrand (German Edition)
auch noch in die Kirche zitierte. Sie besaß in diesem Ort irgendwie eine unerklärliche Autorität. Seltsam!
»Hallo, Onkel René!« Sie reichte dem Wirt die Hand, der sie daraufhin stürmisch umarmte.
»Also! Du überrascht mich immer wieder, meine Kleine!« rief er lachend. »Und dabei kenne ich dich doch ...«, er legte seine Hand an die Hüfte, »... seit du so groß bist!«
»Hast du für unseren Freund Louis noch ein schönes Zimmer?« Sie legte dem Wirt liebevoll die Hand auf die Schulter.
»Aber klar! Das ist doch Ehrensache!«
Er hatte wohl sofort begriffen, daß der Fahrer – obwohl er mit diesem Zacharias und Rodrigues im Auftrag des Bischofs die Pfarreien heimsuchte – einer von ihnen war ... wenn Marie es sagte.
»Und dann gib unserem Abbé bitte noch eine Flasche von deinem Roten!«
Pierre ließ sie einfach machen und hielt sich zurück. Er fühlte sich noch ein wenig unsicher auf diesem Terrain. Stille Kirchen und tote Pfarrhäuser ... das waren bislang seine Lebensräume gewesen. Da mußte man – auch als junger Mensch – höllisch darauf achten, nicht schon in frühen Jahren zu einem verschrobenen Sonderling zu werden. Aber, er würde dieses muffige, alte Leben auch nicht vermissen ...
»Ach ...«, sie griff noch einmal nach dem Arm des Wirtes und zog ihn zu sich heran, »... zeig meinem Chef doch bitte noch deinen Cognacvorrat.«
Oh, nein! Wie peinlich! Pierre zuckte zusammen. Gerade hatte ihn jemand – plötzlich und unangemeldet – in den Magen getreten. Er wäre aus Scham am liebsten im Boden versunken. Aber der Wirt machte überhaupt keine Anstalten, sich über ihn lustig zu machen oder ihn zu belächeln.
Statt dessen gab er ihm mit einem kleinen Wink zu verstehen, ihm in den Keller zu folgen. »Die Medizin muß immer kühl und dunkel stehen«, sagte er wie selbstverständlich, als er die schwere Tür öffnete. »Unser Doktor hat’s gesagt ... und der muß es ja schließlich wissen!«
»In Ewigkeit, Amen!«
Pierre bekreuzigte sich und setzte sich auf den kleinen Stuhl neben dem Altar. Seine Kirche wurde erfüllt von den Klängen des Harmoniums und dem einsetzenden Gesang seiner Pfarrkinder.
Es geschehen ja wirklich noch Zeichen und Wunder, dachte er, als er zu der alten Tante herübersah, die an dem orgelartigenInstrument ihr Bestes gab. Madame Lobineau, einer der drei Drachen vom Pfarrkomitee, hatte am Vorabend bei ihm geklopft und angeboten, ihr verstaubtes Tasteninstrument für die Tauffeier und für den weiteren Verbleib in der Kirche zur Verfügung zu stellen. Ihr säße die Gicht schon seit längerem in den Händen, und daher sei ihr das tägliche Spiel zu Hause vergällt. Außerdem könne man auf diesem Wege bei Pater Zacharias einen guten Eindruck hinterlassen, und das wäre dem Komitee ein wichtiges Anliegen. Und als Organistin könne sie eine ihrer Freundinnen ... Genau! Drache Nummer zwei! ... wärmstens empfehlen. Tja ... wer hätte das gedacht?
Die Gläubigen stimmten die zweite Strophe an, und das gab ihm noch eine weitere Gelegenheit, seine Gedanken schweifen zu lassen. Er mußte zugeben, daß er seit langem keine Musik mehr in seinen Pfarreien gehört hatte. Seine meist einsam gelegenen Berggemeinden waren stets so arm gewesen, daß an eine Kirchenorgel überhaupt nicht zu denken war. Von daher war diese Leihgabe von Madame Lobineau eine echte Bereicherung!
Jetzt die dritte Strophe! Er sah auf die Uhr. Die Kirche war voll bis auf den letzten Platz. Hinten hatte er mit Marie noch zusätzliche Stühle aufgestellt, damit keiner seiner Besucher stehen mußte. Marie hatte die Kirche mit Sommerblumen von der Wiese geschmückt und den muffigen Geruch mit Bruder Severins Lavendelextrakt vertrieben.
Alles ist perfekt vorbereitet ... und wer fehlt? Natürlich! Ausgerechnet die Person, für die er all dieses hier veranstaltete ... Pater Zacharias! Er hatte schon extra langsam gepredigt, um die Messe in die Länge zu ziehen. Gleich waren sie mit der letzten Strophe fertig, und der Kerl war immer noch nicht da, und dabei war er sich sicher: eine perfekte Inszenierung wie diese hier, und morgen wären sie diesen alten Geier ohne weiteres Aufsehen wieder los. Aber irgendwo hakt es doch schon wieder ... das ist ja typisch! Er sah zu Marie hinunter, die hübschgemacht in der ersten Bankreihe neben den Eltern der kleinen Bernardette saß, auf die das Harmoniumspiel keinen besonderen Eindruck zu machen schien, denn sie schlief. Marie zuckte unauffällig mit den Achseln. Sie
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