Seelenbrand (German Edition)
seines Vorgängers gefunden hatte. Eigentlich war er nur auf der Suche nach etwas Lesbarem gewesen, das ihn von den Dingen hier ablenken sollte. An liturgischen und religiösen Büchern hatte der alte Abbé – Gott sei Dank – wohl auch kein rechtes Interesse. Leider gab es aber – abgesehen von den Massen wurmstichiger historischer Schinken über die Geschichte der Kirche und der Templer – trotzdem nichts in den Bücherschränken des Pfarrhauses, das ihm auch nur ein Mindestmaß an kurzweiliger Zerstreuung geboten hätte. Das war ja klar!
Enttäuscht hatte er die verglaste Tür des Schranks schon wieder halb geschlossen, als ihm der besonders schäbige Einband eines großen Buches aufgefallen war. Wenn er hier schon nichts Unterhaltsameszu finden vermochte, so tat es bei seiner augenblicklichen Stimmungslage auch schon etwas Kurioses. Hauptsache war doch, daß er irgendwie diese einsamen Nachtstunden hinter sich brachte.
Totenstadt war ungelenk auf den Buchrücken geritzt und mit goldener Farbe ebenso zittrig nachgemalt. Als er diesen zerfledderten Haufen Papier in einer staubigen Wolke herausgezogen hatte, war ein gefaltetes Blättchen herausgefallen, das sich bei näherem Hinsehen als eine handgezeichnete Karte der Umgebung entpuppte. Was nun den Inhalt der vergilbten Seiten betraf, so reichte ein Blick, um ihm einen tiefen Seufzer entfahren zu lassen. Eine Geschichte der Stadt R. mußte er unwillig auf dem Deckblatt lesen. Von wegen spannend! Und dann war der ganze Mist auch noch mit der Hand geschrieben.
Oh, wie sehr er das haßte! Von Anbeginn seines Studiums hatte er jedes handschriftliche Gekritzel verabscheut, mochte es auch noch so alt und wertvoll gewesen sein.
Wozu hatte eigentlich Gutenberg diese segensreiche Erfindung des Buchdrucks gemacht? Schon während seiner Ausbildung zum Priester hatte man ihn ständig dazu gezwungen, so lange über irgendwelchen langweiligen Schriftstücken zu brüten, bis er die einzelnen Schnörkel und Kritzeleien entziffert hatte. Also, dieser unleserliche Quatsch hatte ihm bislang nur seine Lebenszeit geraubt! Angeödet von seinen Erinnerungen hatte er den Deckel des Buches schon wieder respektlos zugeknallt. Doch dann war ihm etwas Interessantes aufgefallen. Die Geschichte von R? Es war doch nicht etwa ... Hastig hatte er den Deckel nochmals geöffnet. Ja! Es ging darin tatsächlich um Rennes-le-Château, um seine eigene Pfarrei! Das war eine Überraschung! Er hatte noch nicht vergessen, daß ihm Marie schon am ersten Tag die Geschichte der Region um die Ohren gehauen hatte, und daß es ihm nur mit Mühe gelungen war, seine Unwissenheit zu verbergen. Wenn er sich jetzt überwinden konnte – vielleicht auch nur für eine Stunde – stünde er beim nächsten Mal nicht so dämlich da. Dieser Gedanke tröstete ihn ein wenig, als er sich über das schauderhafte Gekritzel beugte ...
»Guten Tag, Herr Pfarrer!« Pierre drehte sich um und grüßte freundlich zurück, als der Mann mit seinen Schafen an ihm vorbeikam und lächelnd seinen Hut lüftete. Die blökenden Tierezwängten sich um die nächste Ecke des Weges, und es herrschte wieder vollkommene Stille, als er sich in die Karte versenkte, die er gestern abend entdeckt hatte.
Schon beim zweiten Hinsehen – in der Nacht – hatte er erkannt, daß dieses Stück Papier nichts Geheimnisvolles zu enthalten schien. Es gab einige Eintragungen und Anmerkungen zu markanten Punkten in der Landschaft, mehr nicht. Eigentlich hatte er sich für heute vorgenommen – am heiligen Sonntag – diesen zündelnden Totengräber zu besuchen, der sich noch in Gewahrsam des Gendarmen von Couiza, dem Nachbardorf, befand. Aber nachdem er sich in der letzten Nacht so mühevoll durch die vergilbten und muffigen Seiten der Geschichte des Ortes gegraben hatte, wollte er den Spaziergang gleichzeitig dazu nutzen, sich in der Umgebung seines neuen Dienstortes ein wenig umzusehen.
Irgendwo da unten – wenn er der Karte glaubte – schlängelte sich zwischen den bewaldeten Hügeln dort hinten die alte Pilgerstrasse nach Santiago de Compostella entlang. Er blinzelte in die Sonne, die ihren mittäglichen Höchststand gerade erst hinter sich hatte. Es gibt Dinge ... ohne Mühe richtete er seine Karte zur besseren Orientierung nach Norden aus ... die vergißt man nicht, auch wenn man sie schon als Bengel gelernt hat.
Als er in der Nacht über diesen handgeschriebenen Seiten gebrütet hatte, war ihm aufgefallen, daß die Geschichte der Stadt von
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