Seelenbrand (German Edition)
Ahnung!« Sie machte eine unwillige Bewegung mit beiden Händen. »Sie sind hier der Pfarrer.«
»Schön, daß Sie das endlich erkannt haben!« Damit war seine Ehre als Pfarrer – und als Mann – also wieder hergestellt. Vielleicht würde sie eines Tages ja auch den jämmerlichen Anblick vergessen, als sie ihn wie einen nassen Sack aus der Jauche ziehen mußte. Während beide auf die Inschrift der Grabplatte blickten, begann er leise zu lesen.
»Als das Lamm das zweite Siegel öffnete, erschien ein anderes Pferd, das war feuerrot. Und der, der auf ihm saß, wurde ermächtigt, der Erde den Frieden zu nehmen, damit die Menschen sich gegenseitig abschlachteten. Und es wurde ihm ein großes Schwert gegeben.«
Als er das letzte Wort leise herausbrachte, sah er sie mit großen und erwartungsvollen Augen an und sprach betont forschend: »Und? Was hat das hier wohl zu bedeuten? Eine solche Inschrift auf einem Grab?«
Marie zuckte wild mit den Schultern und machte eine völlig ratlose Miene – ob gespielt oder echt, vermochte Pierre bei ihr noch nicht zu erraten.
»Das bedeutet«, hob er vielsagend an, während er ihr in dieAugen sah und darauf wartete, daß sie den Satz fortführte, »das bedeutet«, fuhr er schließlich selbst fort – als er zu seiner Belustigung feststellte, daß es ihr wirklich die Sprache verschlagen hatte, und daß ihr auch nach längerem Überlegen nichts Vorlautes mehr einfiel – »das bedeutet, daß Ihr alter Pfarrer wohl eine Vorliebe für das Dramatische hatte.«
»Ja, und? Ist das alles?« Ungeduldig wartete Marie auf eine Erklärung, aber er ließ sie erst einmal schmoren.
»Das hier«, er hocke sich nieder und fegte mit den Fingern den letzten Sand von der Schrift, »stammt aus der Apokalypse des Johannes.« Er blickte sie an, aber sie zeigte keine große Reaktion. »Na, Sie wissen schon«, er fuchtelte mit den Händen und suchte nach den richtigen Worten, »... diese ganze Sache mit dem jüngsten Gericht ... Ende der Welt ... Untergang ...«
»Hm? Aber warum hat er so etwas auf seinem Grab einmeißeln lassen?« fragte Marie.
Also dieses Luder! Sie wußte doch bestimmt ganz genau, was hier vor sich ging, und welche Bewandtnis es mit dieser Grabplatte hatte. Garantiert!
»Ich dachte, das könnten Sie mir sagen! Sie haben den alten Pfarrer ja schließlich noch persönlich gekannt.«
Sie überlegte einen Augenblick, schüttelte aber dann ihren Kopf. »Wie ich Ihnen schon gesagt habe: er war sehr beliebt und hat sich vorbildlich um seine Pfarrei gekümmert.« Sie deutete in Richtung Pfarrhaus. »Und mehr als einmal hat er seine ganze Gemeinde zu einem festlichen Bankett eingeladen.« Sie überlegte. »Hm, komisch war er eigentlich nur, wenn es um seine Arbeit und seine Untersuchungen ging. Dann hat er sich tagelang in seinem Turm eingeschlossen und mit niemandem geredet.«
Pierre setzte sich auf die Grabplatte des Alten. »Stimmt es, daß er hier auf dem Friedhof gegraben hat? Dieser Handwerker Claude Olivier, den mir Ihre Tante geschickt hat, hat so einiges erzählt.«
Sie nickte mit ernster Miene. »Ja, das hat seinerzeit einen ganz schönen Aufruhr gegeben. Und er hat damit erst aufgehört, als der Bürgermeister und ein paar Leute aus Rennes bei ihm waren und mit einer Anzeige gedroht hatten.« Sie zuckte mit den Schultern. »Alles hatte irgendwie mit der Renovierung der Kirche zutun. Ihr Freund Claude Olivier«, Pierre überhörte diese provozierende Bemerkung, um ihren Redefluß nicht zu unterbrechen, »war übrigens einer seiner Handwerker.« Sie schnüffelte und kräuselte ihre Nase. Immer wieder putzte sie – das war bestimmt ein Tick! – ihre schmutzigen, mittlerweile verklebten Hände an der Hose ab, obwohl die Knochenbrühe das Kleidungsstück komplett verdreckt hatte.
»Dieser versoffene Olivier hat immer wieder behauptet, daß er bei den Arbeiten in der Kirche einen Goldschatz gefunden hätte, den unser alter Pfarrer für sich behalten hat.«
Pierre nickte. »Das hat er mir auch schon erzählt.« Er machte einen Wink in Richtung Pfarrhaus. »Mit dem Geld hat er sich dann wohl die Villa gebaut, die selbst unserem Herrn Bischof ein Dorn im Auge ist.«
»Aber nein!« entrüstete sich Marie. »Das große Haus hat er aus reiner Nächstenliebe gebaut. Es sollte ein Altersheim für seine Pfarrerskollegen aus der Diözese werden.«
Aha, dieses kleine – aber wichtige – Detail hatte ihm der Bischof wohl absichtlich verschwiegen. Ihm ging es aus kindischem Neid einfach
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