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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Schriftzeichen wurden immer blasser. Damit der kleine Mann verstand, worum es ging, sprach sie die Worte, die sie schrieb, auch laut aus. »Was soll das heißen?«
    Das Tor öffnet und schließt sich von allein.
    Der Federkiel strich übers Papier, erreichte den unteren Rand der linken Seite und schrieb oben auf der rechten weiter. »Eben hast du das Tor schneller geschlossen als sonst.«
    Ich kann Einfluss darauf nehmen, wenn der Zyklus begonnen hat, aber jetzt ist er zu Ende. Das Tor öffnet sich erst wieder in …
    »Sechs Stunden, vierundfünfzig Minuten und dreizehn Sekunden«, sagte Benedict mit einem Blick auf das Messinstrument in seinem Handgelenk.
    … sechs Stunden, vierundfünfzig Minuten und dreizehn Sekunden.
    Florence holte tief Luft und sah sich noch einmal um. Noch immer durchzogen dunkle Linien die grauen Wände, aber es gab keine schwarzen Knoten mehr, aus denen Käfer schlüpfen konnten.
    »Ich frage dich noch einmal«, sagte und schrieb sie. »Was bedeutet dies alles? Wer bist du?«
    Ich bin noch immer das Buch, dummes Kind.
    »Es gefällt mir nicht, dass du mich dummes Kind nennst.«
    Dann stell keine dummen Fragen.
    Das Gerät in Florences linker Hand piepte leise. Benedict nahm es und überprüfte ein kleines Display. Dann beugte er sich zur Seite und flüsterte Florence ins Ohr: »Es ist die Resistenz. Sie scheint hier stärker zu sein als in den anderen Bereichen der Festung.«
    »Und?«, erwiderte Florence ebenso leise, obwohl sie einigermaßen sicher war, dass das Buch mit gesprochenen Worten allein nichts anfangen konnte.
    »Der energetische Pegel der Energiezelle sinkt«, raunte Benedict. »Es ist nicht mehr genug Saft da, um die zweite Kette zu durchtrennen, und in ein paar Minuten reicht die Energie nicht einmal mehr für eine Flamme.«
    Mit anderen Worten, dachte Florence, in wenigen Minuten haben wir kein Druckmittel mehr. Sie überlegte und begann nachdenklich damit, im Buch zu blättern. Die vorderen Seiten waren voller dicht gedrängter Schriftzeichen: schwarz und deutlich die des Buches, blass und kaum lesbar die anderen, vermutlich von einigen jener Leute geschrieben, deren Skelette im Beinhaus lagen. Aber vielleicht … Florence blätterte schneller, auf der Suche nach etwas, das eine »magische Formel« sein konnte. Möglicherweise war es vor ihnen irgendeinem Besucher gelungen, dem Buch die richtigen Worte zu nennen und so aus der Festung zu entkommen.
    Die Worte des Buches auf den Seiten weiter vorn blieben unverändert – Florence las Bemerkungen in der Art von Wie dumm muss man sein, um so etwas zu schreiben? und Dummer Junge, siehst du nicht, dass die Käfer kommen? und Das Tor bleibt geschlossen, es ist zu spät. und oft Nein, das sind die falschen Worte. Doch die Buchstaben, die fremde Hände mit dem Federkiel geschrieben hatten, verblassten immer mehr, bis sie nur noch vage Schatten auf vergilbtem Papier waren, undeutliche Striche ohne erkennbare Bedeutung, bis all die vorher vollgeschriebenen Seiten gar nicht mehr voll waren, sondern nur noch die oft spöttischen Antworten des Buches zeigten.
    Florence kehrte zur aktuellen Seite zurück. »Wenn du mich noch einmal ›dummes Kind‹ nennst, verbrenne ich dich hier auf diesem Sockel.« Der Federkiel kratzte übers Papier. »Ich verbrenne alles von dir, deinen Ledereinband und alle Seiten, bis nur noch Asche von dir übrig bleibt. Hast du verstanden?«
    Ein Kringel erschien unter den letzten Worten des Buches. Ein kleiner Schrei, vielleicht leise und gedämpft?
    »Ich will wissen, ob du mich verstanden hast.«
    Ja, ich habe verstanden.
    »Du solltest auch besser dies verstehen: Ich verbrenne dich, wenn du dich weiterhin so unkooperativ verhältst. Ich verbrenne dich, wenn du meinen Fragen ausweichst. Ich verbrenne dich, wenn du dich weigerst, uns zu helfen. Ist alles bei dir angekommen?«
    Ja.
    Florence nickte. »Also gut. Wer bist du?«
    Ich bin das Buch , erschien in einer Zeile auf der rechten Seite. Darunter entstanden weitere Schriftzeichen. Tut mir leid, ich kann die Frage nicht anders beantworten.
    »Fragen Sie nach der Phasenschwelle«, drängte Benedict. »Haben Sie gehört? Die Phasenschwelle. Es soll sie für uns öffnen.«
    Florence blickte nachdenklich auf das Buch hinab, den Kopf voller Gedanken. Eine ganz bestimmte Frage drängte nach vorn, aber Florence schob sie sanft beiseite. Zuerst wollte sie etwas anderes wissen.
    »Was bist du? Wer hat dich hierhergebracht? Worin besteht deine Aufgabe?« Nach

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