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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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und dachte: Es könnte ein Auge von ihm sein, oder ein Ohr. Ein Wesen ohne Gestalt, eine wache Intelligenz, die nie schlafen muss, die immer und überall lauscht und beobachtet. Vandenbrecht verzog das Gesicht, warf den Amplifikator, der ihn so oft mit ausgewählten Datenströmen der Welt verbunden hatte, aufs Bett und wankte ins kleine Bad. Die Müdigkeit war nicht mehr die Maske, die er so oft getragen hatte, um Verhandlungspartner zu täuschen. Sie durchdrang ihn, jeden Muskel und jeden Nerv seines neunundsechzig Jahre alten Körpers, legte sich ihm schwer aufs Gemüt und machte manchmal sogar die Gedanken träge. Zum Glück hatte er seine kleinen Helfer.
    Mit leicht zitternden Fingern öffnete er die Schachtel mit den roten Pillen im linken Fach und die mit den blauen im rechten. Inzwischen waren es mehr blaue als rote, aber das spielte keine Rolle mehr. Wichtig war nur, die Müdigkeit zu überwinden. Vandenbrecht nahm eine von den roten Pillen, die die doppelte Dosis enthielten, und als er den Mund öffnete, nahm er den starken Zimtgeruch in seinem Atem wahr.
    »Moses?«, kam eine Stimme durch die halb offene Tür des Bads. »Sind Sie wach, Moses?«
    Ich bin immer wach, seit mindestens hundert Jahren, dachte er, schluckte die rote Pille und trank etwas Wasser. Dass er nach Tetra süchtig war, wusste er schon seit einer ganzen Weile. Irgendwann würde er einen hohen Preis dafür bezahlen müssen, aber noch stand er nicht an der Kasse des Lebens. Es galt, wichtige Entscheidungen zu treffen, und dafür brauchte er einen klaren Kopf.
    »Moses?«, erklang erneut die Stimme. »Der Präsident möchte Sie sprechen.«
    Da war noch jemand, der wenig schlief, oder gar nicht, und vielleicht benutzte er ebenfalls Tetranol, um die Müdigkeit zu besiegen: Harland Cortez Gates-Ellison, Hauptaktionär von MS-Oracle, Präsident des Philanthropischen Instituts und Vorsitzender des Verwaltungsrats.
    »Gleich, Consuela«, sagte Vandenbrecht laut. »Ich bin gleich da.«
    Das Tetra wirkte bereits und vertrieb den Nebel aus dem Kopf. Die Gedanken wurden klarer, schneller. Vandenbrecht benutzte das Mundspray, rückte die Krawatte zurecht, streif te die Anzugjacke übers zerknitterte Hemd, verließ das Bad und öffnete die Tür des Schlafabteils.
    Dort stand seine Sekretärin Consuela, zwanzig Jahre jünger als er, aber das breite, ovale Gesicht bereits von zahlreichen Falten durchzogen; die meisten waren erst während der letzten Wochen entstanden. Ihr Kostüm war zerknittert wie sein Hemd, ihr Haar zerzaust – vielleicht hatte sie ebenfalls zu schlafen versucht. Hinter ihr führte ein Korridor durch den mit Kommunikationsgeräten vollgestopften Tupolev-Airbus TA499. Fast zwei Dutzend Personen saßen dort an Bildschirmen, sprachen mit der Welt, nahmen die neuesten Meldungen entgegen und werteten sie aus. Jede von ihnen empfing spezielle Informationen, und im Lagezentrum in der Mitte des Flugzeugs wurden diese aus analysierten Daten bestehenden Mosaiksteine zu einem vollständigen Bild der aktuellen Situation zusammengesetzt.
    »Wie sieht es aus?«, fragte Vandenbrecht, als sie durch den Korridor gingen und Consuela ihm einen Becher Kaffee reichte.
    »Die neuesten Klimamodelle sind durchgerechnet und verifiziert, Moses«, sagte die Venezolanerin an seiner Seite. »Europa wird ein Eisschrank. Im kommenden Frühling wird der Schnee in Mitteleuropa nicht mehr schmelzen. Arktische Luftmassen werden auch im Sommer weit nach Süden strömen. Auf dem Balkan und sogar in Italien und in Griechenland rechnen wir mit Temperaturen, die im Juli und August nicht über zehn Grad hinausgehen.«
    Vandenbrecht schüttelte den Kopf. »Die Welt scheint uns davon überzeugen zu wollen, dass es immer noch schlimmer kommen kann, als wir bisher dachten. Was ist mit Harland? Hat er es sich anders überlegt?«
    »Er hat mir nichts gesagt, Moses.«
    Sie erreichten das Lagezentrum, und Consuela deutete auf den Hauptschirm. »Ich bin in der Nähe, falls Sie etwas brauchen.«
    Vandenbrecht nickte und nahm im Sessel vor dem Hauptschirm Platz. Zwei in der Nähe sitzende Kommunikationstechniker standen auf und verließen den Raum.
    »Sie sehen schlimm aus, Moses«, sagte Harland Cortez Gates-Ellison.
    »Danke, Mr. President. Sie haben auch schon mal besser ausgesehen, wenn Sie mir diese Bemerkung gestatten.«
    Der Mann auf dem Schirm – um die vierzig, das Haupt haar noch dunkel, die Schläfen aber schon grau, in den Augen der violette Glanz von

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