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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Zwang Hand in Hand, Zach. Manchmal ist Zwang der Schlüssel, der die Tür zur Freiheit öffnet.«
    Zacharias atmete tief durch. Der Moment war gekommen. »Es gibt nur eine Person, die mich Zach nennen darf, und das ist Florence.«
    Mit einem Satz war er direkt neben Florence, ergriff ihre Hand und wollte springen, in Richtung des geistigen Leuchtfeuers, das aus den Signalen der Rückversicherung bestand. Aber im gleichen Moment war plötzlich Teneker auf den Beinen, flog heran und rief: »Nehmt mich mit!«

8
    Z acharias zögerte, und später dachte er oft daran, dass dieses Zögern der Grund für alles war, was danach kam. Wenn er sofort gesprungen wäre, ohne sich aufhalten zu lassen, hätte er vielleicht zur Foundation zurückkehren können. Aber so blieb Kronenberg Zeit genug, wie aus dem Nichts vor Zacharias zu erscheinen, das Gesicht hell, das weiße Haar wie ein Strahlenkranz, die blauen Augen wie kleine Gletscher. Mit beiden Händen packte er ihn am Kragen und beugte sich vor, bis nur noch wenige Zentimeter ihre Gesichter voneinander trennten. »Du bleibst hier, mein Freund .«
    Zacharias rammte ihm den Kopf auf die Nase, hörte ein Knirschen und sah, wie Blut spritzte. Er löste Kronenbergs Fäuste von seinem Kragen und spürte, wie ihm ein Fingernagel über den Handrücken kratzte, schlang den einen Arm um Teneker, den anderen um Florence und sprang.
    Die Hütte aus verwittertem Holz verschwand, ebenso der Hügel mit dem hohen Gras und die bis zum Horizont reichende Wüste. Aber es erschien nicht die Straße mit der Mauer, die den garantierten Übergang enthielt, von Florence mit einem RV-Signal markiert.
    Dunkelheit umschloss Zacharias, schwärzer als die finsterste Nacht, die er je erlebt hatte – so schwarz, dass er sich blind glaubte. Aber er war nicht taub, denn er hörte eine Stim me in der Finsternis, eine ruhige, fast traurig klingende Stimme, die ihm zuvor Wohlbehagen und Frieden gegeben hatte.
    »Eines Tages werden auch wir Freunde sein, Zacharias«, erklang diese Stimme aus dem Dunkeln. Sie schien nahe zu sein, so nahe, dass er nur die Hand ausstrecken musste, um den Mann zu berühren, dem sie gehörte. Aber hatte er überhaupt eine Hand? »Wir gehören zusammen, wir alle, wir Weltenwanderer, und meine Aufgabe besteht darin, uns zusammenzuführen. Weißt du, Zacharias, man nennt mich nicht nur Salomo, den Friedlichen. Ich habe noch andere Namen, und einer von ihnen lautet ›Seelenfänger‹. Weil ich Seelen fange. Aber ich fange keine Seelen, um sie gefangen zu halten, sondern um sie zu befreien. Ich werde auch dich befreien, Zacharias, hörst du?«
    Die Stimme wurde leiser, weil die Entfernung wuchs, und eine Sekunde später begriff Zacharias: Die Entfernung wuchs, weil er fiel.
    Er stürzte in die Tiefe.
    Ein Gedanke schwebte losgelöst von allen anderen und dachte: Stell dir vor, du hättest den Körper, den du dir wünschst. Stell dir vor, du müsstest nie in den Rollstuhl zu rückkehren, wo du nur mit den Augen schreiben kannst, wo dich eine Magensonde ernährt und Urin und Kot über Schläuche abgeführt werden. Stell dir einen Körper vor, in dem alle Muskeln und Nerven so funktionieren, wie du es möchtest.
    Dieser eine Gedanke, losgelöst von allen anderen, war ein verlockender Gedanke, und zunächst unbeachtet von den anderen schlug er Wurzeln, aus denen Sehnsucht wuchs.
    Zacharias öffnete die Augen, geplagt von Durst. Die Lippen waren trocken und rissig, der Gaumen ausgedörrt, die Kehle wund. Aber Erleichterung war nahe: Regen prasselte auf das Wellblechdach einige Meter über ihm, und direkt vor dem Eingang hatte sich eine Pfütze gebildet; dicke Regentropfen klatschten wie Geschosse hinein und ließen kleine Fontänen aufsteigen.
    Aufstehen konnte er nicht, dazu fehlte ihm die Kraft, aber er konnte kriechen, und so kroch er unter der Decke hervor, die jemand auf ihn gelegt hatte, und zum Eingang, durch Staub und Dreck, vorbei an Schutt und Gerümpel. Als er die Pfütze erreichte, begann er gierig zu trinken, doch fast sofort packten ihn zwei Hände an den Schultern und rissen ihn fort von dem Wasser.
    »Trink das nicht, Zach«, sagte Florence und zog ihn aus dem Regen, zurück unters Dach. »Ich hab davon getrunken, und mir ist stundenlang so schlecht gewesen, dass ich mehrmals kotzen musste. Mit dem Regen stimmt was nicht, hörst du? Hier, trink hiervon. Ich habe sauberes Wasser gefunden.«
    Sie setzte ihm etwas an die Lippen, das eine Feldflasche zu sein schien, und er griff

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