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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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City?«, murmelte Zacharias erstaunt und beobachtete, wie sein Atem eine graue Wolke bildete; ein leichter Wind trug sie fort. Er merkte plötzlich, wie kalt es war – so kalt, dass sich eine Gänsehaut auf seinen Armen bildete –, und er erinnerte sich daran, dass er Florence im Tunnel seine Jacke überlassen hatte. Er versuchte gar nicht erst, sich mit einem Willensakt eine neue zu verschaffen, kehrte in den Unterstand zurück, nahm eine der schmutzigen Decken, legte sie sich um die feuchten Schultern und ging wieder nach draußen.
    Hinter der zu einem kleinen Teich gewordenen Pfütze fand er Fußspuren: kleine, mit stinkendem Regenwasser gefüllte Mulden im schlammigen Boden. Zacharias zog sich die Decke etwas enger um die Schultern und folgte ihnen.
    Warum war es so kalt?, dachte er, als er durch den Regen stapfte. Bisher war Sea City auf ihrer langen Reise über den Pazifik immer in den Tropen geblieben, aber dies fühlte sich nach einer subpolaren Zone an. Und diese Stadt war tot, ihre Gebäude nur noch leere Gerippe, bis auf den Turm, der, soweit Zacharias das in der Dunkelheit erkennen konnte, nahezu unbeschädigt aufragte.
    Erste Schneeflocken mischten sich in den Regen.
    Dass die Fußspuren zum Turm führten, überraschte ihn nicht, denn es war der Turm, der auch die Büros, Behandlungszentren und Suiten der Foundation enthielt; er hätte sich ebenfalls in diese Richtung gewandt. Zacharias versuchte, nicht auf Schneeregen und Kälte zu achten, als er durch die Nacht marschierte, den größeren Pfützen auswich und darauf achtete, die Spuren nicht aus dem Auge zu verlieren.
    Er hatte den Turm fast erreicht, als er die Leiche fand.
    Auf dem Bauch lag sie im Schlamm, das eine Bein in einer tiefen Pfütze, das andere neben einem Betonblock, aus dem mehrere krumme, rostige Bewehrungsstangen rag ten. Die Arme waren ausgebreitet, das Gesicht halb im nassen Dreck verborgen. Im Rücken der Jacke zeigten sich mehrere Löcher, und der Regen hatte einen Teil des Blutes weggewaschen.
    Ein oder zwei schreckliche Sekunden lang befürchtete Zacharias, dass es sich um Florence handelte, dass sie tot – erschossen – vor ihm lag, aber dann erkannte er den Toten als Mann. Neben ihm blieb er stehen, bückte sich und drehte die Leiche vorsichtig auf den Rücken. Ein junger Mann mit schmaler Nase und vollen Lippen, die Züge fast mädchenhaft zart – Teneker.
    Er ging in die Hocke und berührte den Mann am Hals, obwohl er wusste, dass kein Leben mehr in ihm steckte, und er fragte sich kurz, ob auch der andere Teneker tot war, der in der Foundation.
    Hinter ihm platschten eilige Schritte durch Schlamm und Pfützen, und Zacharias hatte sich noch nicht ganz umgedreht, als eine Stimme aus Nacht und Regen kam. »Hier bist du, meine Güte, ich habe überall nach dir gesucht!«
    Florence lief auf ihn zu, in etwas gehüllt, das nach einer alten Plane aussah, und darunter trug sie nicht das leichte Sommerkleid, in dem sie gefroren hatte, sondern eine dunkle, fleckige Leinenhose, einen Wollpullover und seine Jacke. Er schloss sie in die Arme, und für einen Moment genoss er es einfach nur, sie bei sich zu wissen und ihren Körper zu spüren, warm unter der Plane und lebendig.
    Dann schob er sie behutsam ein wenig von sich fort und sagte: »Ich habe Teneker gefunden.«
    Sie nickte unter der Plane, deren einen Zipfel sie sich wie eine Kapuze über den Kopf gezogen hatte. »Ich weiß, dass er tot ist. Ich bin vor einigen Stunden schon mal hier gewesen, auf der Suche nach sauberem Wasser.«
    Zacharias deutete auf die Löcher in Tenekers Jacke. »Jemand hat ihn erschossen.«
    »Ja, danach sieht es aus.«
    »Wer?« Zacharias sah sich um.
    »Keine Ahnung, Zach. Ich bin stundenlang durch diese Stadt gelaufen, ohne jemandem zu begegnen. Wir scheinen allein zu sein.«
    Er deutete auf das Interface-Äquivalent an Florences Ohr. »Empfängst du irgendwas?«
    »Nichts. Was ist mit dir?«
    Zacharias horchte in sich hinein. »Als du den Kontakt mit Lily verloren hast, habe ich noch immer das synästhe tische Prickeln des RV-Signals gespürt, aber seitdem ich hier erwacht bin, herrscht Stille. Ich bin vollkommen von den Interface-Systemen des Rollstuhls isoliert.«
    »Fast einen ganzen Tag haben wir hier verbracht, Zach. Wie fühlst du dich?«
    Er wusste, was Florence meinte. »Du befürchtest, dass unsere Tetranol-Phase bald zu Ende geht.«
    »Es kommt auf die Größe des Ereigniswinkels an. Für dich wäre es nicht weiter schlimm; du hast so was

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