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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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es echte Welten.«
    Florence beäugte die beiden Tabletten – Manuels Hand befand sich jetzt direkt vor ihren Augen –, und Interesse erwachte in ihr. »Wir sind keine Traveller«, sagte sie langsam. »Was stellt Tetra bei Leuten wie uns an?«
    Manuel grinste plötzlich. »Lass dich überraschen.«
    Ach, was soll’s, dachte Florence benommen, nahm eine der beiden Pillen und schluckte sie, ohne mit irgendeiner Flüssigkeit nachzuspülen.
    Manuel kam näher und legte den Zeigefinger unter ihr Kinn. »Schau mir in die Augen, Kleines.«
    Sie lachte. »Du bist nicht Bogey. Nicht mal annähernd.«
    »Aber ich könnte es für dich sein.« Er drückte seine Lippen auf die ihren, und seine Zunge bahnte sich einen Weg in ihren Mund. Und während er sie küsste, auf eine eher ungeschickte, fast brachiale Art und Weise, griff etwas nach Florences Gedanken und trug sie fort.
    Klick.
    So fühlte es sich an, und so hörte es sich an. Wie eine Szenenklappe beim Film. Achtung, Tetra die erste, dachte sie, wunderte sich über ihre dummen, wirren Gedanken und bereute, die blaue Tablette geschluckt zu haben. Stattdessen hätte sie mehr Neutro nehmen sollen, denn sie war so betrunken, dass sie sich schlecht fühlte.
    Dies alles dachte sie, während sie flog, im warmen Sonnenschein, gestreichelt von Wolkenfetzen, hoch über einer Stadt, die aus funkelnden rubinroten und opalblauen Pyramiden bestand.
    »Gefällt es dir?«, fragte Manuel.
    Er flog an ihrer Seite, hielt ihrer Hand, und der Wind zerzauste ihm das Haar.
    Sie fühlte seine Finger an den ihren, fühlte den eigenen Herzschlag und auch seinen, wie zwei Trommeln, die im Takt schlugen. Sie fühlte sich blinzeln und atmen, sie fühlte die Kleidung an ihrem Leib, und sie beobachtete unten in der Stadt das Spiel von Licht und Schatten, geschaffen von Sonne und Wolken. Sie nahm jedes einzelne Gefühl und prüfte es, wie sie es bei einer Selbstbeschau machte, wenn sie versuchte, ihren Empfindungen und Stimmungsschwankungen auf den Grund zu gehen, mit dem Unterschied, dass sie diesmal ihre Wahrnehmung prüfte.
    »Es … fühlt sich absolut echt an«, sagte Florence. Dann dachte sie, dass sie ohne Flügel eigentlich nicht in der Lage sein sollte zu fliegen, und eine halbe Sekunde später stürzte sie in die Tiefe, den Spitzen der Pyramiden entgegen.
    Klick.
    Dort saß das Kind im abstürzenden Flugzeug, dessen Triebwerke von faustgroßen Hagelkörnern zertrümmert worden waren. Still saß es im Chaos, gehalten vom Sicherheitsgurt und umgeben von schreienden Menschen und umherfliegenden Gegenständen. Seine Augen waren groß und voller Tränen, denn die Puppe, die es in Händen hielt, hatte ihr gerade gesagt, dass sie sich trennen mussten, für immer, weil sie jetzt sterben würden, weil es keine Rettung gab, weder für sie noch für die anderen an Bord. Dann brach das Flugzeug auseinander, und dem Kind wurde die Puppe aus den Händen gerissen.
    Klick.
    Etwas bewegte sich in ihr. Sie fühlte angenehme Wärme, wie zuvor beim Flug im Sonnenschein hoch über der Pyramidenstadt, aber diesmal kam die Wärme aus ihrem Innern, wie von einer inneren Sonne. Und etwas bewegte sich in ihr, rhythmisch, mal schneller, mal langsamer, etwas zwischen ihren gespreizten Beinen. Das Kleid, stellte sie fest, war bis über ihre Brüste nach oben geschoben, und Manuel arbeitete in ihr. Schau mir in die Augen, Kleines , sagte er. Habe ich nicht gesagt, dass ich Bogart für dich sein kann? Sie fühlte seine Lust wie die ihre, fühlte ihn nicht nur in sich, sondern schlüpfte unter seine Haut, in seinen Leib, bewegte sich mit pumpenden Lenden zwischen den Beinen, die ihre waren.
    Klick.
    Etwas zerrte an ihren Gedanken, erst mit weichen Händen, mit sanftem Nachdruck, dann mit scharfen Krallen, wild und ungestüm. Sie fühlte die kalte Leere der Selbstmörderin hoch oben auf dem Turm, die sich fallen ließ, bevor die Hände der Retter sie erreichen konnten, und die ihre Arme für den Aufprall ausbreitete, der Erlösung bringen sollte. Sie fühlte die Angst der Geiseln in der Gewalt einer Gruppe, die glaubte, für eine gerechtere Welt zu kämp fen, davon überzeugt, dass ihre Ziele jedes Opfer rechtfertigten. Sie fühlte das Entsetzen des Mannes, dem man einen breiten Gürtel mit Sprengstoff anlegte. Sie hörte seine Gedanken, wie er sich fortwünschte von diesem Ort, wie er sich fragte, warum er jemals zuvor in seinem Leben unglücklich gewesen sein konnte, denn jetzt erschienen ihm selbst die dunkelsten Momente

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