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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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der vergangenen Jahre hell und voller Wonne.
    Klick.
    Gefällt es dir? , fragte der Mann, der noch immer in ihr arbeitete, Manuel hieß er, erinnerte sie sich. Aber jetzt hatte er sich die andere Öffnung vorgenommen, nicht weit von der ersten entfernt, und das mochte sie nicht. Sie hatte ihm bestimmt gesagt, dass sie es nicht mochte, auch wenn sie sich nicht daran erinnerte, denn es tat weh, und sie mochte nicht, wenn es wehtat, und sie mochte es auch nicht, einfach so benutzt zu werden. Er war hart in ihr, richtig hart, fast wie ein mechanisches Ding, und plötzlich begriff sie: Dieses Tetra-Zeug, dieses Tetranol … Während es bei ihr irgendetwas mit den Gefühlen anstellte, mit ihrer Empathie, die sie zu der Entscheidung gebracht hatte, empathische Psychologie zu studieren, wirkte es bei Manuel wie ein Superaphrodisiakum, wie ein besonders starkes Viagra. Sie wollte sich umdrehen, aber er hielt sie fest, seine Hände schlossen sich fester um ihre Schultern, und er stieß so tief in sie hinein, dass sie glaubte, es müsse sie zerreißen. Sie langte mit dem Arm nach hinten, schlug und kratzte, zog die Beine an und trat, vielleicht schrie sie auch, sie wusste es nicht genau. Wenn sie schrie, so vermischten sich ihre Schreie mit denen der Menschen, die in einem Hotel im mexikanischen Cancún ausharrten, während draußen ein Hurrikan tobte. Es war nur einer der Stufe 1, aber er genügte, um das bereits gestiegene Wasser bis in den ersten Stock des Hotels zu drücken und ein Fundament zu unterspülen, das durch den gestiegenen Wasserspiegel instabil geworden war. Das Heulen des Sturms übertönte zunächst das Knirschen in den Wänden, aber bald zeigten sich dort erste Risse …
    Aufhören, dachte Florence. Es soll endlich aufhören! Damit meinte sie nicht nur die schrecklichen Bilder voller fremder, naher, intensiver Emotionen, sondern auch Manuel, der sie ritt und seine Tetra-Lust an ihr ausließ. Schluss damit!
    Etwas packte ihre Gedanken und wirbelte sie fort.
    Klick.
    Wasser klatschte gegen die Kaimauer, und mit jedem Klatschen schien es zu sagen: Ich steige höher und höher, ich klettere an diesen Steinen empor, bis ich darüber hinwegschwappen und die Stadt erreichen kann, und dort krieche ich in alle Fugen und Ritzen, fließe in jeden Keller, dringe bis in die letzten Winkel vor, bis alles mir gehört.
    Florence starrte aufs dunkle Wasser, das die Lichter der Anlegestellen widerspiegelte, und fühlte seine langsam wogende Präsenz wie die einer riesigen, globalen Kreatur, die immer größer wurde, Inseln bedeckte und über die Ränder der Kontinente wuchs. Sie saß auf einer Bank und zitterte, aber nicht vor Kälte, denn es war eine warme Nacht, und außerdem trug sie eine Jacke, die vielleicht von Manuel stammte, oder von jemand anderem, sie wusste es nicht – sie wusste nicht einmal, wie sie das private Zimmer und die Tempel-Diskothek verlassen hatte, wie sie hierher zum Jachthafen gekommen war. Florence zitterte, weil sie noch immer nicht wieder sie selbst war und in ein Netz aus emotionalen Impressionen verstrickt blieb, die von vagen Bildern begleitet durch ihr Bewusstsein zogen. Selbst das Meer vor ihr, von den künstlichen Mauern der Wehre in Schach gehalten, schien plötzlich eine Seele zu haben, die zu ihr sprach. Sie schlang die Arme um sich selbst und beugte sich vor, bis sie beinahe von der Bank gerutscht und über die Kaimauer ins Wasser gefallen wäre. Der Geruch von Erbrochenem stieg ihr in die Nase, und sie sah die braungelbe Lache neben der Bank, mit Spritzern, die bis zum Rand der Mauer reichten. Es ist meine eigene Kotze, dachte sie, ohne eine klare Erinnerung daran, sich übergeben zu haben. Ich habe mich erbrochen, weil mir schlecht war, und mir ist noch immer schlecht.
    Kleine Wellen schlugen an den Kai, und ihr Platschen sprach zu ihr, so wie die Puppe im abstürzenden Flugzeug zu dem Mädchen gesprochen hatte. Es sagte: Es war nicht dein eigenes Elend, das dir den Magen umgedreht hat, Flo; es war das Elend der ganzen Welt.
    Da saß sie, in der Gesellschaft von Jachten, deren Weiß aus der Nacht ragte und darauf hinwies, dass es eine Gruppe von Privilegierten gab, die ihr bisheriges Leben trotz allem fortsetzten, während die Welt zerbrach, an deren Zerstörung sie maßgeblich beteiligt waren. Da saß sie, im Schatten jenseits des Lampenscheins, empfing den Schmerz der Welt, hörte die Stimme des Meeres und zitterte, weil sie plötzlich nicht mehr wusste, wo ihr Platz in all dem Chaos

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