Seelenfänger
war, im äußeren wie im inneren. Gab es irgendwo eine Insel des Friedens und der Ruhe, auf der sie sich niederlassen und zu sich finden konnte? Da war er wieder, ihr Hang zur Flucht, der Wunsch, allem den Rücken zu kehren und unbehelligt zu bleiben. Aber das geht nicht, flüsterte ihr das Platschen der Wellen zu, die an die Kaimauer schlugen. Hier bin ich, und dort bist du, und ich werde auch dich erreichen, früher oder später, wo auch immer du dich versteckst.
Manchmal klickte es in Florence, aber nicht laut genug, um ihr Denken und Fühlen an andere Orte zu versetzen. Sie nahm den Rest Neutro, den sie in ihrer Handtasche fand, und allmählich ließ der Schmerz nach, wobei sie kaum zwischen ihrem eigenen und dem der Welt unterscheiden konnte. Zeit verstrich, das Wasser klatschte weiter an die Kaimauer, hatte jetzt aber keine Stimme mehr, die zu ihr sprach, und die weißen Jachten schaukelten auf den Wellen wie Relikte aus der Vergangenheit, die versuchten, einen Platz in der Gegenwart zu bewahren. Vergangenheit und Zukunft, und dazwischen das kurze Hier und Heute, ein Moment dünn wie ein Gedanke, nicht festzuhalten, ein Übergang, der manchmal gerade Platz genug bot für das Treffen wichtiger Entscheidungen.
Manchmal reifen Entscheidungen heran und treten aus dem Schatten ins Licht, wenn sie sich voll entwickelt haben. Florence saß auch weiterhin in Dunkelheit – nicht mehr vorgebeugt auf der Kante der Bank, sondern zurückgelehnt, ohne zu zittern –, aber in ihrem Innern wurde es an einer Stelle hell, wo bis eben alles finster gewesen war, und plötzlich wusste sie: Weglaufen hatte keinen Sinn, nie. Man konnte sich nicht vor etwas verstecken, das alle betraf, aber man konnte versuchen zu helfen, etwas von dem Schmerz zu lindern, an dem andere litten, und damit auch den eigenen. Florence begriff, dass sie nicht auf Ruhe und Frieden verzichten musste, dass sie beides nicht abseits aller anderen fand, sondern mitten unter ihnen. Die Entscheidung, empathische Psychologie zu studieren, war der instinktive erste Schritt gewesen, und der nächste, bewusste, bestand aus der praktischen Anwendung ihrer Empathie.
Sie stand auf, trat an der Lache ihres Erbrochenen vorbei und sah zum Hügel mit der Villa ihres Vaters. Im Osten kündigte sich das erste Licht des neuen Tages an, und an den Hängen des Hügels waren nicht nur Lichter zu sehen, sondern auch Konturen der Villen. Ihre Eltern hatten nie Zeit für sie, nicht einmal dann, wenn sie für einige Tage bei ihnen wohnte, aber diesmal würden sie sich Zeit nehmen müssen, insbesondere ihr Vater.
Mit entschlossenen Schritten ging sie zum nächsten Taxistand.
Das Sicherheitspersonal der Villa ließ sie kommentarlos passieren, verzichtete aber nicht ganz auf erstaunte Blicke, als die Tochter des Hauses durch den parkartigen Garten ging und das Hauptgebäude betrat, wo die Bediensteten da mit beschäftigt waren, die Spuren der Party zu beseitigen. Dicke Teppiche dämpften ihre Schritte in dem Gebäudeflügel mit den Schlaf- und Gästezimmern. Schließlich blieb sie vor einer ganz bestimmten Tür stehen, klopfte an und wartete. Als nach einigen Sekunden keine Reaktion erfolge, klopfte sie erneut, mit etwas mehr Nachdruck.
»Ja? Wer ist da?«
»Ich bin’s, Vater.« Und für den Fall, dass das nicht genügte, fügte sie hinzu: »Deine Tochter.«
»Was? Florence?«, ertönte es schlaftrunken.
Hast du noch eine andere Tochter, dachte sie. »Ja, Florence. Ich muss mit dir reden.«
»Was? Reden? Äh … Moment. Hab einen Moment Geduld.«
Florence wartete und fragte sich, warum es so lange dauerte. Schließlich öffnete sich die Tür, und ein Blick an ihrem Vater vorbei beantwortete ihre Frage. Ferdinand Legrand und Elvira Alessandra Legrand, geborene da Silva, schliefen seit Jahren in getrennten Zimmern, aber in dem großen Doppelbett auf der anderen Seite des weinroten Raums hatte nicht nur eine Person gelegen; beide Seiten waren benutzt. Der Vorhang am Fenster bewegte sich, und daneben stand die Tür zum Bad offen.
Ihr Vater trug einen langen, mit geometrischen Mustern geschmückten Morgenmantel und sah darin aus wie ein allmählich in die Jahre kommender Zauberer. Er strich sich eine Strähne seines zerzausten Haars aus der Stirn.
»Bist du schon auf den Beinen? Ich …«
»Ich bin die Nacht unterwegs gewesen«, sagte Florence. »Und ich habe eine Entscheidung getroffen.«
»Ach.« Ferdinand Legrand verzog andeutungsweise das Gesicht. »Freut mich, aber
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