Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
Vom Netzwerk:
»Oh, Salomo, du hast dir den richtigen Moment für deinen Besuch ausgesucht. Ich bin gerade mit dem Säubern der Fische fertig und kann ein paar von ihnen auf den Rost legen, genug für uns alle.« Ihr Blick ging kurz zu Zacharias, Kronenberg und den drei anderen Männern.
    Sie traten auf die Veranda, und Anna und Salomo umarmten sich.
    »Dies ist ein neuer Freund«, sagte Salomo und deutete auf Zacharias. »Die anderen kennst du ja. Er heißt Zacharias und glaubt noch, aus der einzig möglichen Wirklichkeit zu stammen.«
    »Oh, ich verstehe. Nun, Salomos Freunde sind auch meine Freunde.« Sie nickte Zacharias zu und schob die Tür etwas weiter auf. Drinnen brannte ein Feuer im Kamin. »Kommt rein.«
    »Danke für die Einladung, Anna«, sagte Salomo. »Aber wir möchten dich nicht stören. Ich weiß, wie sehr du es schätzt, allein zu sein, und wie sehr du unangemeldete Besuche hasst. Wir sind auch nur hier, weil dies für mich eine Abkürzung nach Prisma ist. Und weil ich dich um einen Gefallen bitten möchte.«
    Anna lehnte sich neben der Tür an die Wand und paffte. Von ihrer Pfeife ging ein würziger Geruch aus, der Zacharias an seine Kindheit erinnerte, an die brasilianischen Indios, denen er als Acht- oder Neunjähriger begegnet war, an den Duft von Kräuterfeuern.
    »Wenn ich dir irgendwie helfen kann …«, sagte sie.
    »Zacharias misstraut mir. Er glaubt nicht, dass ich nur helfen will, dass es mir um Freundschaft und um Freiheit für alle Traveller geht. Sag ihm, welche Erfahrungen du mit mir gemacht hast.«
    Anna nahm die Pfeife aus dem Mund und musterte Zacha rias einige Sekunden lang. Ihr Gesicht war ledrig und faltig von einem Leben im Freien, aber ihre Augen blickten sanft und verständnisvoll. »Lass dir eins sagen, mein Junge: Seit mich Salomo hierhergebracht hat, kann ich endlich das Le ben führen, das ich schon immer führen wollte. Dafür, und für alles andere, werde ich ihm immer dankbar sein.« Sie stieß sich von der Wand ab. »Ich muss mich jetzt um die Fische kümmern. Wollt ihr wirklich nicht mit reinkommen?«
    »Nein, danke, wir machen uns wieder auf den Weg.«
    Salomo winkte zum Abschied, Anna schloss die Tür hinter sich, und sie traten von der Veranda herunter.
    Zacharias hatte noch immer den Geruch von Annas Pfeife in der Nase.
    »Du hast sie gehört, Zacharias«, sagte Salomo, als sie neben der kleinen Anlegestelle am Ufer des Sees standen. Es erschienen immer mehr Sterne am Himmel, und das spiegelglatte Wasser reflektierte ihr Licht. Hier scheint es zwei Himmel zu geben, dachte Zacharias. Einer oben und einer unten. Welcher ist der richtige? »Habe ich sie gezwungen, die Worte zu sprechen, die sie an dich gerichtet hat? Gibt es irgendeinen Grund an ihnen zu zweifeln?«
    Salomo bückte sich, nahm einen flachen Stein und warf ihn so, dass er über den See flog und mehrmals von seiner Oberfläche abprallte, bevor er schließlich im Wasser versank. »Ich habe Anna geholfen, das Leben zu führen, das sie sich immer gewünscht hat. Ich habe all den anderen geholfen, die du noch sehen wirst, und ich kann auch dir helfen. Stell dir vor, nicht mehr gelähmt zu sein, Zacharias. Stell dir vor, mit diesem Körper zu leben, mit dem du siehst und hörst und fühlst, nicht nur für ein paar subjektive Tage, sondern für immer. Du könntest dir eine Frau nehmen und Kinder bekommen …«
    Florence, dachte Zacharias. Wo bist du?
    »Es ist eine Illusion«, sagte er. Es klang fast trotzig. »Dies alles existiert nicht wirklich. Es sind nur Ideen und Konzepte, geschaffen von einem fremden Bewusstsein und von unseren Hirnen so verarbeitet, dass sie den Sinnen real erscheinen. Konzeptualisierungen, so nennt man das. Die Wirklichkeit ist ganz anders beschaffen. Meine Realität besteht aus einem Rollstuhl und einem gelähmten Körper.«
    »Und wenn in Wirklichkeit der Rollstuhl und dein gelähmter Körper die Illusion sind?«, erwiderte Salomo. Kronenberg und die anderen standen in der Nähe, stumme Zuhörer und Wächter. »Beweis mir, dass diese Welt hier wirklich eine Illusion ist. Nur zu.«
    Zacharias sah sich um. Inzwischen war es so kühl geworden, dass sein Atem kondensierte und er zu frösteln begann. Auf der einen Seite war der Himmel – der obere wie der untere – bereits ganz dunkel geworden, und auf der anderen schluckte die heranrückende Nacht das letzte Licht des Tages. Es war eine Szene der Ruhe und des Friedens, die gut zu dem Wohlbehagen passte, das sich wieder in Zacharias ausbreitete.

Weitere Kostenlose Bücher