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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Die Luft war frisch, roch hier nicht mehr nach Pfeifentabak, und leichter Wind kräuselte die Seeoberfläche.
    Salomo hob zwei Kieselsteine auf und klackte sie aneinander. »Hörst du das? Klingt es nicht echt?«
    »Es sind unsere Ohren, die uns belügen«, sagte Zacharias, aber vielleicht, dachte er, belog er sich selbst.
    Der kleine Mann gab ihm die beiden Steine. »Hier, nimm. Wie fühlen sie sich an?«
    Zacharias nahm die beiden Steine und fühlte, dass der eine etwas rauer war als der andere. Er wog sie in der Hand, drehte sie hin und her, betrachtete sie im schwindenden Licht. Schließlich warf er sie in den See und beobachtete, wie sie mit einem Platschen im dunklen Wasser verschwanden. Manchmal war es ihm im Space gelungen, Bilder hinter Bildern zu sehen, wenn er sich darauf konzentrierte, gewissermaßen die mentale Textur des Geistes hinter den Szenen, in denen er sich mit Florence bewegt hatte. Aber hier gab es nichts dergleichen. Die Hütte hinter ihnen, der See, die weit aufragenden Bäume, in der Ferne die Bergkette, die sich als gezackte Linie am dunkler werdenden Horizont zeigte … Alles wirkte überaus real.
    Er betrachtete den schmutzigen Verband an seiner rechten Hand. Die entzündete Wunde darunter, die sich seinem Willen entzog, brannte immer noch.
    »Welchen Unterschied gibt es zwischen Wirklichkeit und Illusion, wenn er für die menschlichen Sinne nicht wahrnehmbar ist?«, fragte Salomo.
    »Ich weiß von dem Unterschied«, erwiderte er leise. »Und dieses Wissen wird immer in meinem Kopf stecken. Ich weiß, dass ich in Wirklichkeit in einem Rollstuhl sitze und gelähmt bin. Wie kann ich das jemals vergessen?«
    »Umso mehr kannst du dein Leben mit diesem Körper genießen«, sagte Salomo und winkte, eine Geste, die nicht nur dieser Welt galt. »Das ist die Freiheit, die ich dir zu bieten habe. Freiheit von Rollstuhl und Lähmung. Die Freiheit, das Leben zu führen, das du führen möchtest, so wie Anna. Und wie all die anderen, die ich dir zeigen werde. Komm.«
    Salomo drehte sich um, ging einige Schritte und blieb bei einem Felsen stehen, der wie ein dicker Finger aus Granit am Ufer aufragte. Daneben flimmerte es vor dem dunklen Hintergrund des Waldes, wie von aufsteigender heißer Luft, und ein Übergang bildete sich, keine weiße Tür, sondern ein Riss in der Luft, als hätte ein darin verborgenes Gewebe nachgegeben.
    »Komm, Zacharias.« Salomo winkte einladend. »Lass mich dir einige der anderen Welten zeigen.«
    Zacharias folgte ihm und merkte dabei, dass Kronenberg und die anderen hinter ihm blieben, als wollten sie sicherstellen, dass er sich nicht in eine andere Richtung wandte.
    »Ich dachte, der nächste Übergang, die ›Brücke‹, befände sich auf der anderen Seite des Sees«, sagte Zacharias erstaunt.
    Kronenberg trat näher. »Salomo braucht weder Übergänge noch Brücken.« Bewunderung erklang in seiner Stimme. »Er kann gehen, wohin er will.«
    »Manchmal genügt es, wenn man mich ruft«, sagte der kleine Mann. »Oder wenn man an mich denkt.« Ein rätselhaftes Lächeln umspielte seine Lippen. »Öffne dein Radar und sag mir, was du siehst.«
    Zacharias sandte ein Ping aus, und auf seinem inneren Monitor erschienen sofort Echos, die ihm Salomo, Kronenberg, die anderen Männer und Anna in ihrer Hütte zeigten. Als er sich dem von Salomo geschaffenen Übergang zuwandte, empfing er ein Rauschen, das umso lauter wurde, je mehr er sich darauf konzentrierte, wie von Tausenden Stimmen in der Ferne.
    »Du hörst sie, nicht wahr?«, fragte Salomo. »All die Stimmen … Kannst du sie voneinander unterscheiden? Kannst du hören, was einzelne von ihnen sagen?«
    Zacharias lauschte, und das Brausen wurde noch lauter, schwoll zu einem Donnern ein. Nein, er konnte die Stimmen nicht voneinander trennen. Er schüttelte den Kopf.
    »Jede einzelne von ihnen erzählt mir Geschichten«, sagte Salomo und klang fast verträumt. »Ich höre, wie sie mir die Geschichten ihres Lebens erzählen, Geschichten von ihren Hoffnungen und Träumen. Das alles höre ich und versuche, ihnen zu helfen, ihnen das Leben zu geben, das sie sich wünschen. Was kann daran verwerflich sein?«
    Wärme durchströmte Zacharias und vertrieb die Kühle des Abends. Salomos Worten klangen vernünftig.
    Der kleine Mann deutete in den breiter werdenden Riss, der ein buntes Kaleidoskop aus Szenen und Eindrücken zeigte, wie verschiedene Einstellungen eines zu schnell laufenden Films. »So viele Welten, wie Perlen an Schnüren

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