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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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aufgereiht …«
    Zacharias erinnerte sich. »Und es gibt Dutzende solcher Schnüre, jede von ihnen mit Hunderten von Welten, hier und dort miteinander verknotet und verheddert, wie ein großes Knäuel …«
    Salomos Züge verhärteten sich ein wenig. »Er hat dir davon erzählt.«
    Kalter Wind berührte Zacharias und ließ ihn frösteln, trotz der Wärme, die er eben noch empfunden hatte. Für einen Moment fühlte er sich von Salomos Blick wie seziert, aber dann glättete sich das Gesicht des kleinen Mannes mit dem großen Kopf wieder. »Nun, auch ein dummer Verrückter, der sich in seinem Wahn für Gott hält, kann gelegentlich etwas sagen, dass Sinn hat. Lass mich dir die Perlen zeigen, Zacharias.«
    Sie traten durch den Riss in der Nacht von einer Welt in die nächste.

17
    I n Kattarat fuhren sie auf einem von zahlreichen Flößen über einen Fluss, braun wie Lehm und breit wie der Amazonas, Million-Meilen-Strom genannt. Jedes Floß maß hundert mal hundert Meter und stellte eine kleine Version von Sea City dar, die dreißig Familien Platz bot. So langsam floss das lehmbraune Wasser, dass es die Flöße pro Tag nur zehn Meilen weit stromabwärts trug. Zehn Meilen pro Tag, dachte Zacharias. Das waren gut dreitausendsechshundert Meilen im Jahr und sechsunddreißigtausend Meilen in zehn Jahren. Selbst wenn die Kinder, die gerade geboren waren, hundert Jahre alt wurden, legten sie doch kaum mehr als ein Drittel der Gesamtstrecke des Flusses zurück. Wer als Neugeborener am Ursprung des Flusses aufgebrochen war, hätte dreihundert Jahre alt werden müssen, um sein Ende zu sehen.
    Sie wanderten, in dicke Mäntel gehüllt, über die Gletscher von Ikara und besuchten eine kleine Stadt namens Icefield, bestehend aus etwa hundert igluartigen Gebäuden auf einem breiten, eisverkrusteten Felsvorsprung. Auf Schlitten begleiteten sie die Schneeläufer von Icefield am Rande des Hunderte Kilometer langen Großen Gletschers entlang, bis die Kälte Zacharias wie mit Messern durchs Gesicht schnitt. Sie saßen am Strand von Ippicu, einer von zahlreichen Inseln eines tropischen Meeres, tranken nach Himbeeren schmeckenden Saft aus hohen Gläsern, in denen kleine Eisbrocken klirrten. Als die Sonne, riesig und blutrot, im Meer versank, tanzten sie mit den Bewohnern der Insel an Feuern, die auf dem breiten Sandstrand brannten, zum Klang von Gitarren und Flöten, untermalt vom Rauschen der brechenden Wellen. Sie kletterten in den Höhlen von Nanorah, durch Kathedralen aus Stalagmiten und Stalaktiten, hier und dort erhellt von gleißendem Licht, das durch winzige Öffnungen in der hohen Decke strahlte. Die Menschen, die in diesen Höhlen lebten, hatten große Augen, mit denen sie auch in der Dunkelheit gut sehen konnten, und sie mieden die vom Licht erreichten Stellen, weil es ihre weiße Haut verbrannte. Des Kletterns müde geworden flogen sie in der Passagiergondel eines großen Zeppelins über ödes braungelbes Land, von dem Rauchsäulen aufstiegen. Mit einem Feldstecher beobachtete Zacharias gepanzerte Fahrzeuge, deren Gleisketten und stählerne Räder den Boden aufrissen, Leichen zerfetzten und die Befestigungen von Schützengräben unter sich zermalmten. Geschütze donnerten, spuckten Tod und Zerstörung.
    »Führen die Menschen dort unten das Leben, das sie sich wünschen?«, fragte Zacharias.
    »Nein«, erwiderte Salomo traurig. Zusammen mit anderen Passagieren saßen sie an einem breiten Aussichtsfenster. »Niemand hat sie gefragt, ob sie in den Krieg ziehen wollen.«
    »Was ist mit ihren Wünschen, mit ihrer Freiheit?«
    »Ich muss gestehen, dass du da einen wunden Punkt berührst, Zacharias«, sagte Salomo. Er wirkte bedrückt und zerknirscht. Kronenberg und die anderen saßen neben ihnen und schienen darauf zu achten, dass ihnen niemand zu nahe kam. »Die Welten wachsen mit unseren Erinnerungen, Träumen und Ängsten. Meine – unsere – Weltenbauer in Prisma versuchen, Schmerz und Leid auszumerzen, aber die menschliche Psyche ist komplex, wie du sehr wohl weißt, und in ihr gibt es immer ein paar dunkle Ecken. Jene Menschen dort unten … Nicht ich habe sie hierherge bracht, und auch nicht meine Helfer. Manchmal genügt es, dass jemand einen Albtraum hat, oder dass einer der Weltenbauer nicht aufmerksam genug ist.«
    Zacharias beobachtete, wie mehrere große Panzer sich durch Schlamm wühlten und gegenseitig unter Beschuss nahmen. Einer von ihnen platzte auseinander. Flammen leckten, eine weitere Rauchwolke bildete sich, und

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