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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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kurze Zeit später hörten die Passagiere in der Gondel ein dumpfes Grollen.
    »Ich habe also recht«, sagte Zacharias und ließ den Feldstecher sinken. »Du hast gerade zugegeben, dass ich recht habe. Dies alles, und auch die anderen Welten, die wir gesehen haben … Sie sind nur Illusionen, geschaffen von fremden Gedanken.«
    Salomo hob die Hände. »Sieh dir diese Hände an, Zacharias«, sagte er. »Mein Gehirn steuert sie. Meine Gedanken sagen ihnen, was sie tun sollen. Sie können formen und gestalten. Sie können eine Welt verändern, im Kleinen wie im Großen. Sie können Häuser bauen, und Maschinen. Sie können einen Spaten führen, Pflüge lenken und Traktoren steuern, das Land bestellen und Korn säen. Aber letztendlich sind es die Gedanken, die den Ausschlag geben, die alles planen. Ihre Anweisungen bestimmen, was die Hände tun. Stell dir nun eine … Sphäre vor, in der die Gedanken keine Hände mehr brauchen, um ihre Vorstellungen zu verwirklichen, einen besonderen Nährboden, der sie wachsen und Form gewinnen lässt, der ihnen Substanz gibt.«
    »Es ist keine echte Substanz«, unterbrach Zacharias den kleinen Mann. »Es ist nur etwas …«
    »Das wir anfassen können«, sagte Salomo. »Das wir sehen und fühlen. Noch einmal frage ich dich: Wenn das, was du berührst, siehst und fühlst, deine Sinne von seiner realen Existenz überzeugt … wie kannst du dann an seiner Realität zweifeln? Du fühlst den Schmerz, du siehst das Blut, du wirst müde in einem Körper, dessen Muskeln dir gehorchen. Dein Gehirn empfängt die Signale und setzt sie zu der Welt zusammen, in der du dich bewegst. Das hat es auch in der Foundation getan, in jener Welt, in der du mit den Augen gesprochen hat, weil sich Zunge und Lippen nicht mehr bewegten. Auch dort empfing dein Gehirn die Signale deiner Sinne und hat sie zu einem Weltbild zusammengesetzt. Warum sollte das eine realer sein als das andere?«
    Zacharias schaute nach draußen, hinab auf das endlose Schlachtfeld mit dem Rauch und den Geschützen, und schüttelte langsam den Kopf. »Gedanken, die ganze Welten erschaffen … Das kann nicht richtig sein. Träume haben keine Substanz.«
    »Und wenn sie doch welche bekommen, wenn man sie anfassen kann … werden sie dann nicht Wirklichkeit? Der Unterschied, Zacharias, betrifft den Blickwinkel, nicht das Erleben. Und darum geht es, um Leben. Ich gebe dir Leben. Ein neues, freies Leben.«
    Wie großzügig von ihm, dachte Zacharias, und dieser Gedanke war sowohl von aufrichtigem Staunen als auch von Spott und Skepsis begleitet.
    Die nächste Welt präsentierte ihm den Basar von Takesch, und in dem bunten Treiben fiel es Zacharias schwer, an Spott und Skepsis festzuhalten. Farbenpracht und Vitalität zogen ihn in ihren Bann. Hunderte von Verkaufsständen säumten die Straßen, mit Sonnendächern, die sich einige Meter über dem alten Kopfsteinpflaster trafen und angenehmen Schatten spendeten. Händler und Verkäufer priesen lautstark ihre Waren an. In lange, schimmernde Gewänder gekleidete Frauen prüften Stoffe, bestaunten Schmuck, feilschten um Töpfe und Vasen, sprachen und lachten. Kinder spielten mit Fahnen, Ballons und Vorrichtungen, die Zacharias an Jo-Jos erinnerten. Männer saßen an kunstvoll geschnitzten Ti schen, pafften an Wasserpfeifen, tranken Tee, warfen Würfel auf Spielbrettern mit seltsamen, verschnörkelt wirkenden Symbolen und beobachteten die Passanten. Ihr besonderes Interesse galt hoch aufragenden Gestalten, die weite Umhänge mit jadegrünen und opalblauen Pyramidenmustern trugen und denen die anderen Passanten bereitwillig Platz machten. Ihre Gesichter blieben unter purpurroten Kapuzen verborgen, aber Zacharias bemerkte stumpfe Hörner, die darunter hervorragten. Als eine dieser Gestalten in den Sonnenschein trat, der durch eine Lücke zwischen zwei Markisen fiel, glaubte er zu sehen, wie sich das helle Licht kurz auf glänzenden Schuppen widerspiegelte.
    »Zach!«
    Der Ruf übertönte die anderen Stimmen, das Lachen der nahen Kinder, das Klappern der Töpfe am nächsten Stand, auch das laute Blöken eines Lasttiers, das wie eine Mischung aus Büffel und Elefant aussah. Zacharias stellte sich auf die Zehenspitzen, reckte den Hals … Dort war sie, gut ein Dutzend Meter entfernt, von zwei der Kapuzenleute begleitet, die sie rechts und links an den Armen hielten: eine zierliche junge Frau mit schwarzem, lockigem Haar, ovalem Gesicht und dunklen Augen. Florence, kein Zweifel. Sie öffnete den Mund und

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