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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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sollte es Gedanken ohne ein Gehirn geben, in dessen organischen Strukturen sie wurzelten? Aber etwas sagte ihm, dass Salomo recht hatte, dass dies tatsächlich möglich war, wie auch immer.
    »Hier könntest du Kinder haben«, sagte Salomo, als sie ein Sommerfest beobachteten, das auf dem zentralen Platz der Stadt stattfand. Musik erklang, Kinder zogen mit Lampions am Rande des Platzes entlang, und in der Mitte, auf grauweißem Marmor, tanzten Paare, unter ihnen Zacharias und Florence.
    Hier könnte ich Kinder haben , dachte Zacharias. Hier könnte ich leben . Eine besondere Art von Müdigkeit umfing ihn: keine Erschöpfung, nicht das Ergebnis von Anstrengung, sondern ein Nachlassen der Anspannung, als hätte er nach langer, langer Suche endlich einen Ort erreicht, der ihm Ruhe und Frieden bot. Gedanken und Gefühle waren wie in Watte gebettet; es gab keine spitzen Ecken mehr, keine scharfen Kanten.
    »Wie lange, glaubst du, wäre es mit Florence gut gegangen?«, fragte Salomo sanft. »In der Foundation, meine ich. Wie lange hätte sie einen Mann im Rollstuhl geliebt? Und wie lange hätte Jonas Rasmussen das zugelassen? Beziehungen zwischen Therapeuten und Travellern sind verboten. Bisher hat er nicht nur ein Auge zugedrückt, sondern beide …«
    »Jonas …«, begann Zacharias und beobachtete die Tänzer, unter ihnen er selbst und Florence. Er nahm den würzigen Geruch der Espetada wahr, die nicht auf Metallspießen steckten, sondern auf echten Lorbeerstöcken. Er fühlte die Fröhlichkeit, den warmen Abend, die Zufriedenheit dieser Menschen. Und er wünschte sich, zu ihnen zu gehören, wie jener Zacharias, der mit seiner Florence tanzte, Teil dieser Gemeinschaft.
    »Jonas weiß schon seit einer ganzen Weile Bescheid«, sagte Salomo. »Irgendwann wird er eure Beziehung beenden müssen . Vielleicht indem er Florence versetzt, sie anderen Travellern zuweist.«
    Nein, dachte Zacharias. Das würde er nicht tun. Und dann dachte er: Woher weiß Salomo das? Er kam im Space des Patienten Haruko Isamu Abe nach Sea City, mit der Aufgehenden Sonne . Vorher hatte er keinen Kontakt zu uns. Oder?
    Und dann kam Florence auf ihn zu, direkt auf ihn zu, und er war versucht, die Arme nach ihr auszustrecken. Aber als er ihr in die Augen blickte, sah er dort kein Erkennen. Sie ging weiter, durch ihn hindurch, erreichte nach einigen Metern einen Büfetttisch und füllte dort zwei Gläser mit zitronengelber Flüssigkeit.
    »Aber hier bist du frei, Zacharias«, hörte er Salomo sagen. »Das ist mein Geschenk an dich: Freiheit und Freundschaft.«
    Wie dumm ich doch bin, dachte Zacharias und beobachtete, wie der andere Zach, der seine Entscheidung längst getroffen hatte, zu seiner Florence ging. Wie kann ich zögern, wie kann ich zweifeln?
    Doch ein Teil von ihm, tief in seinem Innern, flüsterte eine Warnung. Er manipuliert dich, raunte diese Stimme. Er zeigt dir falsche Bilder. Er stellt irgendetwas mit deinem Gehirn an, damit du dich gut fühlst.
    »Und jetzt …«, sagte Salomo. »Nach Prisma.«
    Ein weiterer Riss nahm sie auf und brachte sie zu einer anderen Welt, als Florence und Zacharias zu ihren Kindern gingen.
    Prisma, die Stadt des Lichts und des Glanzes, der schimmernden Reflexe und schillernden Spiegelungen, Gebäude aus Glas und Kristall, jede Wand mit einem prismatischen Effekt, der alle Farben des Regenbogens schuf, jedes Bauwerk wie bestrebt, die Farbenpracht aller anderen zu übertreffen. An den inneren Hängen eines riesigen erloschenen Vulkans erstreckte sich die Stadt und säumte einen smaragdgrünen See, der sich in der Mitte gebildet hatte und so ruhig dalag wie jener, an dem Anna in ihrer Hütte lebte. Der Vulkan, so erzählte Salomo, als sie den langen Weg beschritten, der in Serpentinen nach unten führte, war das letzte Stück festes Land auf einem Planeten mit einem globalen Meer. Zacharias fragte, ob es die Erde war, oder eine mögliche Erde, vielleicht eine in ferner Zukunft.
    »Du denkst in falschen Bahnen«, antwortete Salomo. Sie erreichten die ersten Gebäude, und einige Männer und Frauen winkten ihnen zu. »Die Welten, die du gesehen hast, sind keine Parallel- oder Alternativwelten. Wir reisen auch nicht durch die Zeit, sondern durch Möglichkeiten . Diese Welten haben wir zum größten Teil selbst erschaffen. Manche ähneln der, die du kennst, deiner ›Erde‹, wenn du so willst, aber andere sehen ganz anders aus. Die Grenzen des Möglichen liegen dort, wo Fantasie und Kreativität der Weltenbauer an

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