Seelenfänger
beste.«
»Vorher muss er lernen …«, begann Kronenberg, aber Salomo gab ihm keine Gelegenheit, den Satz zu beenden.
»Auch wenn du jetzt noch nicht verstehst, was es bedeutet«, hörte Zacharias ihn sagen und wusste, dass die Worte ihm galten. »Wir sind hier an einer Nahtstelle. Unser Netz trifft sich an dieser Stelle mit dem der Kongregation, zu der die Krehel gehören, die du auf der Straße gesehen hast. Damit meine ich die Leute in den Kapuzenmänteln.«
»Sie haben Florence verschleppt«, sagte Zacharias, sah noch immer in die Tiefe und wehrte sich gegen das Wohlbehagen, das ihm Salomos Präsenz gab. »Ich muss ihr folgen und sie befreien.«
Von Salomo kam ein Geräusch, das nach einem leisen Seufzen klang. »Es gibt viele Florences, und du hast gerade eine weitere erschaffen. Das zeigt, wie stark du bist, denn Kronenberg hat recht: Diese Welt ist stabil, gesperrt und eigentlich unveränderbar. Wie dem auch sei: Die Florence, die du hier gesehen ist, existiert nicht mehr in unserem Netz. Die Krehel haben sie fortgebracht. Das machen sie manchmal: Sie wählen Menschen aus und bringen sie fort. Warum? Das weiß niemand.«
»Die Krehel«, ächzte Zacharias und verstand nicht. Er verstand nur, dass er Florence gesehen hatte, und dass sie von zwei Fremden entführt worden war.
Die Hand auf seiner Schulter schien schwerer zu werden. »Komm, Zacharias. Ich zeige dir eine andere Florence. Ich zeige dir dein Leben mit ihr, bevor ich dich nach Prisma bringe.«
Florence, dachte Zacharias und erinnerte sich an Lingbeek.
18
H ier sind wir nur Beobachter«, sagte Salomo, als sie den von ihm herbeigerufenen Übergang passiert hatten. »Ich zeige dir, was sein könnte.«
Er präsentierte Zachariaseine friedliche Stadt, die sich an den Ufern und auf den Inseln eines mäandernden Flusses erstreckte. An einem Nebenarm, dessen Wasser noch langsamer floss, als hätte es keine Eile, das nahe Meer zu erreichen, erhob sich ein Gebäude im Stil einer portugiesischen Villa, weiß, das Dach nur leicht angewinkelt, mit einer breiten, geschwungenen Treppe, die zur Veranda emporführte. Sie standen auf der Straße, neben einem dreirädrigen Elektrofahrzeug, und sahen zum Vorgarten, wo zwei Kinder spielten, ein vier oder fünf Jahre alter Junge und ein Mädchen, das zwei oder drei Jahre älter sein mochte und schwarzes Haar hatte, so lockig wie das seiner Mutter, die auf der Veranda saß.
»Florence«, hauchte Zacharias und wollte losgehen.
Salomo legte ihm erneut die Hand auf die Schulter. »Hast du schon vergessen, was ich dir gesagt habe? Wir beobachten nur.«
Zacharias sah, wie die Kinder spielten, und er wusste, dass es seine eigenen Kinder waren. Er sah sich selbst, wie er aus dem Haus kam und sich für einige Minuten zu Florence auf die Veranda setzte, bevor er die Treppe hinunterging und auf dem Rasen mit Sohn und Tochter spielte.
»Das könnte deine Zukunft sein«, sagte Salomo. »Ein Leben mit Florence, in einer der Welten unseres Netzes. Du kannst frei wählen.«
Die Bilder wechselten, und Zacharias stand wie ein Zuschauer in den Szenen eines dreidimensionalen Films. Er sah die Familie – seine Familie – beim gemeinsamen Essen, bei Tanzabenden und Theatervorstellungen in der Schule, bei Stadtfesten, bei Bootsfahrten durchs Flussdelta, bis hin zum Meer, in das seine Tochter Estell regelrecht vernarrt war. In Streiflichtern sah er die Kinder aufwachsen, sich selbst und Florence älter werden, aber nicht so viel älter, wie er erwartet hätte.
Wieder schien Salomo zu ahnen, was ihm durch den Kopf ging. »In manchen Welten altert man langsamer. Wir wissen nicht, woran es liegt, aber dort kann man länger leben als in anderen. Stell dir vor: hundert Jahre und mehr. Du siehst, wie deine Kinder groß werden, und die Kinder deiner Kinder und deren Kinder. Du könntest eine große Familie haben, was dir in der Welt, aus der du kommst, nicht möglich wäre. Dort erwartet dich auch kein langes Leben, Zacharias. Der gelähmte, an ALS leidende Körper wird irgendwann aufhören zu funktionieren, und dann stirbst du, wenn du dich nicht für das Netz entschieden hast.«
Es klang seltsam, dachte Zacharias, und er fand Zeit, darüber nachzudenken, während er beobachtete, wie Florence, Estell, Lucius und er selbst ihr Leben führten. Konnte er dem Tod des Körpers entrinnen, indem er seine Gedanken auf die Reise schickte? Es war eine sonderbare Vorstellung, denn wie konnte das eine losgelöst vom anderen existieren? Wie
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