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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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als die Fenster – sie reichte fast bis zur Decke. Durch diese Tür musste sie hereingekommen sein, und als sie einen Schritt darauf zutrat, fiel sie plötzlich mit einem lauten Knall zu. Es gab keinen Knauf, keine Möglichkeit, die Tür wieder zu öffnen.
    Die fünfte Wand ihr gegenüber enthielt einen leeren Torbogen, und dahinter erstreckte sich ein dunkler Gang. Etwas bewegte sich dort, ein Schemen in den Schatten, eine vage Silhouette, die zurückwich, mit der Düsternis verschmolz.
    »Ist da jemand?«, fragte Florence.
    Der Schemen wich noch weiter zurück und verschwand dann ganz. Florence glaubte, das Geräusch eiliger Schritte zu hören, halb verloren im Heulen des Winds, und dann lag der Korridor still da, ein dunkler Tunnel, in dem sich nichts rührte.
    In der Mitte des Zimmers stand ein Pult aus Stein, grau wie die Mauern, und auf diesem Pult lag ein großes, aufgeschlagenes Buch, in eisenbeschlagenes Leder gebunden und an den grauen Stein gekettet. Ein leises Kratzen kam von dort, wie von einem Stift, der über Papier strich, und als sich Florence näherte, sah sie Worte, die auf der linken Seite erschienen.
    Nun? , stand dort geschrieben.
    Neben dem großen Buch lag ein Federkiel, aber ein Tintenfass fehlte.
    Die Stimme des Sturms wurde lauter, und wieder knisterte und klirrte es. Florence wandte sich vom steinernen Pult ab, ging zu einem der schmalen Fenster, beugte sich in seine Nische und blickte durch dickes, schmutziges Glas nach draußen. Einige Dutzend Meter weiter unten sah sie die Gebäude, Wehrgänge, Zinnen, Fallgatter und Verteidigungswälle einer ausgedehnten Festungsanlage, und in der Ferne, in den Wolken aus aufgewirbeltem Staub kaum zu erkennen, ragten Türme auf und trotzten dem Sturm. Hinter einem Fenster flackerte Licht, aber es verschwand sofort wieder, und Florence fragte sich blinzelnd, ob sie es wirklich gesehen hatte. Die Festung schien auf der Kuppe eines Hügels oder einem Berg errichtet worden zu sein, denn jenseits der letzten Mauern bemerkte sie einen abwärts führenden Hang. Aber was sich weiter unten befand, welche Landschaft sich dort erstreckte und ob es Siedlungen gab, blieb im grauen Zwielicht verborgen.
    Das Heulen ließ nach, der Sturm schien neue Kraft zu sammeln und Luft zu holen. In der kurzen Stille war das Kratzen deutlicher als zuvor.
    Florence drehte sich um, und als sie zum Pult zurückkehrte, ging ihr Blick kurz zum Torbogen, der ihr seltsamerweise etwas kleiner erschien als vorher. Daneben zeigten sich schwarze Linien im grauen Stein, dünn wie Haarrisse, und Florence fragte sich, ob sie vorher schon da gewesen waren.
    Unter dem Nun? auf der linken Seite des Buches erschienen neue Worte, wie von der Hand eines Geistes geschrieben.
    Falls du es nicht wissen solltest: Dir bleibt nicht mehr viel Zeit.
    »Nicht mehr viel Zeit wofür?«, fragte Florence.
    Draußen schwoll das Heulen des Windes wieder an.
    Florence hob den Kopf. »Hört mich jemand? Mir bleibt nicht mehr viel Zeit wofür?«
    Auch in der Wand ihr gegenüber erschienen schwarze Linien im grauen Stein, an manchen Stellen dicker als an anderen. Ein leises Knistern lag in der kalten Luft, und es kam nicht von den Fenstern.
    Ein unsichtbarer Stift kratzte übers Papier, und neue Worte erschienen.
    Du solltest dich beeilen.
    Florence nahm den Federkiel neben dem Buch und schrieb: Wer bist du? Wer schreibt in dieses Buch?
    Du schreibst in dieses Buch, lautete die Antwort. Und wer ich bin? Ich bin das Buch. Du scheinst schwerer von Begriff zu sein als die anderen. Siehst du nicht, was geschieht?
    »Was geschieht?«, fragte Florence.
    Die dünnen schwarzen Linien in den Wänden … Sie bewegten sich, sie pulsierten wie … Adern, in denen schwarzes Blut floss. An manchen Stellen bildeten sich kleine Knoten, wie Blutgerinnsel. Oder, dachte Florence, wie kleine Eier, in denen etwas heranwuchs.
    Aus dem Augenwinkel bemerkte sie eine weitere Bewegung, drehte den Kopf und sah genau hin. Diesmal konnte kein Zweifel bestehen: Der Torbogen war tatsächlich kleiner geworden. Und er schrumpfte noch immer, ganz langsam. Florence schätzte, dass ihr nur noch wenige Minuten Zeit blieben, den Raum zu verlassen.
    Einige schnelle Schritte brachten sie zu der weißen Tür, durch die sie gekommen war. Eine ganze Minute verbrachte Florence damit, sie nach einem verborgenen Öffnungsmechanismus abzutasten, und als sie keinen fand, stellte sie sich vor das hohe weiße Rechteck und konzentrierte sich wie bei der Übermittlung

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