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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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war, einen Pullover aus kratziger Wolle und eine halblange gefütterte Jacke, deren Kragen sich hochklappen ließ. In der neben dem großen Kleiderschrank stehenden Truhe entdeckte sie ein Paar Wildlederstiefel, fleckig wie die Bettlaken, aber dick und wie die Jacke mit einem wärmenden Futter ausgestattet. Wesentlich besser vor der Kälte geschützt, trat sie vor den Spiegel und fühlte sich seltsam erleichtert, als sie dort ihr eigenes Gesicht sah.
    »Wo bist du, Florence?«, fragte sie ihr Spiegelbild. Es gab keine Antwort.
    Sie ging zur anderen Seite des Zimmers und schaute dort aus einem schmutzigen Fenster, das nur wenig breiter war als die im Zimmer mit dem seltsamen Buch. Das graue Licht schwand; Düsternis breitete sich über der Festung aus und kroch über alte Mauern, begleitet vom Heulen des Winds.
    Florence wandte sich vom Fenster ab, machte einige Schritte, blieb in der Mitte des Zimmers stehen und drehte sich langsam. »Konzentrier dich, Mädchen«, sagte sie leise. »Befolge den Rat, den du Zach so oft gegeben hast, wenn er sich in überraschenden Situationen wiederfand. Bestandsaufnahme, Ziel und der Weg dorthin.«
    Sie grub das Kinn in die Jacke, steckte die Hände in die Taschen und nickte ihrem Abbild im staubigen Spiegel auf der gegenüberliegenden Seite des Raums zu.
    »Bestandsaufnahme«, wiederholte sie. »Nicht existierendes Tetranol und ein Computerprogramm, das es ebenfalls nur in Form einer Konzeptualisierung gab, haben dich hierhergebracht. Und hier, das ist eine uralte Festung mitten in einem Sturm. Ein Buch hat dich nach einer ›magischen Formel‹ gefragt. Wozu? Keine Ahnung. Vielleicht, um dir Auskunft zu geben, deine Fragen zu beantworten. Oder den Übergang zu öffnen, die weiße Tür. Ja. Aber du hattest nur ein paar Minuten, um die richtige Formel zu nennen.«
    Nachdenklich betrachtete Florence ihr Spiegelbild. Es wurde dunkler im Zimmer, die Düsternis verdichtete sich, und die andere Florence im Glas wurde zu einem Schatten, mit Augen, die trotz des Staubs einen seltsamen Glanz zeigten.
    »Es ist nicht zum ersten Mal passiert«, fuhr Florence fort. Die Worte kamen langsam, nicht annähernd so schnell wie ihre Gedanken. Sie sprach schneller und beobachtete, wie sich die Lippen ihres Spiegelbilds bewegten. »Das Buch hat andere erwähnt. Andere Traveller? Aber was soll das alles? Wer hat sich dies ausgedacht.«
    Wer hat sich dies ausgedacht? , flüsterte es durchs Zimmer, wie ein leises, aus der Ferne kommendes Echo. Die Florence im Glas lächelte und trat vor, einen Schritt näher an den Staub heran.
    Es ist eine Falle , hauchte die andere Florence, streckte die Hand aus und strich etwas von dem Staub beiseite, damit sie ihre Augen, ihre leuchtenden Augen, besser sehen konnten. Du steckst in einer Falle.
    Fasziniert näherte sich Florence dem Spiegel, und als sie näher kam, drückte die andere Florence ihre Fingerkuppen von hinten ans Glas des Spiegels.
    Es ist eine Falle des Seelenfängers , flüsterte sie. Komm zu mir, dann erkläre ich dir alles. Nur ein weiterer Schritt. Komm zu mir, dann bist du sicher.
    Florence hob die Hand und berührte vorsichtig den Spiegel, nicht weit von der Stelle entfernt, an der die Fingerkuppen das Glas berührten. Wellenförmige Bewegungen liefen durch den Spiegel, wie von einer dunklen Flüssigkeit, die sich in ihm ausbreitete, schwarz wie die Linien in den steinernen Wänden des Raums mit dem Buch. Die andere Florence lächelte erneut, aber der Glanz in ihren Augen veränderte sich, als sie plötzlich nach der Hand der Florence vor dem Spiegel griff und versuchte, sie ins Glas zu ziehen.
    Florence riss sich los und taumelte zurück. Und als die Frau im Spiegel Anstalten machte, durch das Glas zu kriechen, das dem Druck ihrer Hände wie eine Membran nach gab und sich ins Zimmer wölbte, ergriff sie die Flucht. Einige Minuten später und zwei Treppen tiefer hielt sie in einem dunklen Korridor inne, schöpfte Atem und zwang sich zur Ruhe.
    Gab es in diesem Space, wessen Bewusstsein auch immer er entstammte, ein interaktives, vielleicht autosuggestives Element? Verfügte ihr Unterbewusstsein noch über eine Verbindung mit Lily und empfing es Informationen, die sie zu einem sprechenden – flüsternden – Spiegelbild verarbeitet hatte?
    Der Blick aus einem Fenster des Raums mit dem Buch fiel ihr ein, das Licht, das sie ganz kurz hinter einem der anderen Fenster gesehen hatte. Und zuvor der Schemen im halbdunklen Gang, das Geräusch von Schritten,

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