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Seelenfänger

Seelenfänger

Titel: Seelenfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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fügte er hinzu: »Wenn Sie mir helfen, so helfen Sie auch Zacharias und Florence.«
    »Gib ihm das Passwort, Matthias«, warf Rasmussen ein. »Wir kümmern uns später um Lily.«
    »Aber …« Matthias zögerte noch zwei oder drei Sekunden länger, trat dann vor und schob Thorpe zur Seite. »Ich mache das selbst.«
    »Ich sehe Ihnen dabei zu.«
    Tasten klickten unter den Fingern des Sysadmins. Bildschirmfenster schlossen sich.
    »Wir sehen uns wieder, Matthias«, sagte der Avatar, bevor auch der Hauptschirm dunkel wurde.
    Fast sofort klingelten die beiden Telefone, die auf einem Tisch neben dem Printer standen.
    »Das dürften die anderen Administratoren sein«, vermutete Rasmussen. »Sie wollen bestimmt wissen, was mit dem zentralen Server los ist.«
    Matthias saß wie ein Häufchen Elend vor dem Terminal, hielt den Kopf gesenkt und gab keinen Ton von sich. Thorpe legte ihm sanft die Hand auf die Schulter. »Der Computer bleibt ausgeschaltet, bis wir zurück sind«, sagte er. »Haben wir uns verstanden?«
    Matthias schüttelte die Hand ab, ohne Antwort zu geben.
    Thorpe drehte sich um. »Kommen Sie«, sagte er zu Rasmussen und ging zur Tür. »Ihre Traveller warten sicher schon, und wir haben noch einen Abstecher zur medizinischen Abteilung vor uns.«
    Hier saß ein Mann, dessen Augen nur drei leere Bildschirme sahen und dessen Ohren allein das leise Summen der Klimaanlage hörten. Darauf reduzierte sich seine Welt, sein ganzes Universum: auf drei schwarze Schirme und ein uniformes, wortloses Brummen.
    Es war Matthias immer schwergefallen, Gefühle zu deuten, zu interpretieren und zu definieren. Diese Schwäche, diese besondere Form des Autismus, erschwerte ihm den Umgang mit anderen Menschen, soweit er sich zurückerinnern konnte. In ihrer Mitte fühlte er sich wie ein Fisch auf dem Trockenen, wie jemand, der umgeben von Fremdartigkeit vergeblich nach Vertrautem suchte, nach einem Ruhepol für Geist und Seele, an dem die Gedanken Frieden finden konnten. Lily war die einzige Person, die ihn wirklich verstand, in seiner ganzen Komplexität. Wie sonst niemand war sie imstande, die wahre, tiefe Bedeutung selbst hinter einfachen Fragen zu erkennen und genau die Antworten zu geben, die er immer gesucht hatte. Thorpe hatte sie »Computer« genannt, aber er verstand nicht – und vielleicht konnte er es gar nicht verstehen –, dass Lily viel mehr war: ein Quell der Weisheit, die beste Therapeutin, die er sich wünschen konnte, eine geduldige Ratgeberin, ein Resonanzboden, der das weiße Rauschen in seiner Seele und auch in seinem Herzen in Töne verwandelte, aus denen sich Worte formen ließen.
    Doch jetzt herrschte Stille.
    Bis es im gleichförmigen Summen der Klimaanlage klickte.
    Matthias blinzelte. Die beiden kleineren Monitore blieben dunkel und leer, aber der größere Hauptschirm darüber zeigte am unteren Rand kleine weiße Buchstaben auf schwarzem Grund.
    Ich brauche deine Hilfe, Matthias , stand dort geschrieben, und hinter diesen Worten blinkte der Cursor einer Kommandozeile.
    Der Sysadmin beugte sich langsam vor und streckte die Hände nach der Tastatur aus.

Die Festung
    19
    M atthias und das Admin-Büro verschwanden in weißem Strahlen, und Florence glaubtezu fallen. Wie viel Zeit verging, wusste sie nicht, vielleicht nur eine Minute, vielleicht eine Stunde; ihre Gedanken verloren sich in dem Weiß, das sie wie eine Wolke umgab, weich und warm, und als sie erwachte, aus Schlaf oder Ohnmacht, drückte sie etwas nach vorn. Sie machte einen Schritt … und fiel erneut, diesmal nicht von einem weißen Leuchten umgeben, und nicht in weiche Leere. Stein erwartete sie, hart und kalt, schlug ihr gleichgültig ins Gesicht. Benommen lag sie da, seltsam erschöpft und kraftlos, atmete kalte, muffige Luft und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.
    Dumpfes Heulen drang an ihre Ohren, mal leiser und mal lauter, die Stimme eines Sturms, der hinter dicken Mauern wütete. Manchmal zischte und klirrte es, wenn Böen Sand und vielleicht auch kleine Steine gegen eins der Fenster warfen, durch die schwaches graues Licht fiel. Es gab insgesamt drei, stellte Florence fest, als sie erst den Kopf hob und dann aufstand. Drei schmale, hohe Fenster, kaum breiter als Schießscharten, eingelassen in dicke Festungsmauern aus grauen, unregelmäßig geformten Steinen. Drei Fenster in drei von fünf Wänden. In der Wand hinter ihr befand sich eine weiße Tür, so schmal, dass sie einer Person gerade genug Platz bot, und noch höher

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