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Seelenfeuer

Seelenfeuer

Titel: Seelenfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Haller
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gleichgültig, ob Michel die Rothaarige zu der Gefangenen brachte.
    »Her damit, bevor ich es mir anders überlege!«, sagte er gereizt und riss Luzia die Kostbarkeit aus der Hand. Durch seine Berührung bekam Luzia Gewissheit darüber, was er der Gefangenen angetan hatte. Voller Entsetzen zuckte sie zusammen.
    »Von mir aus kratzt das Weib vom Boden, wenn sie nicht schon krepiert ist«, grunzte der Wächter abfällig und gab den Weg frei.
    Michel warf seinem Kollegen einen angewiderten Blick zu und öffnete die schwere, eisenbeschlagene Tür, die über eine steile Stiege zu den Verliesen hinunter führte. Modriger Gestank schlug ihnen von dort unten entgegen, so, als hätten sich die Angst und das Elend der Gefangenen über die Jahre in der Luft verdichtet. Es war stockdunkel, und nur Michels Fackel bewahrte Luzia davor, in die gähnende Finsternis zu stürzen. Stufe um Stufe wagte sie sich in die klamme Dunkelheit hinab. Zuerst tastete ihre Hand groben Fels, nach einigen Schritten war die Wand des Treppenabgangs mit glitschigem Moos und Flechten bedeckt. Diese Stiege führte zu einem Ort, der noch nie die Sonne gesehen hatte. Luzia schluckte schwer. Der sichtbare Teil des Grünen Turmes beherbergte die Wachstube, einige Vorratsräume und die Folterkammer. Die Gefängnisse selbst befanden sich tief unter der Erde.
    Sie versuchte mit Michel Schritt zu halten, der sich hier auskannte und sich viel sicherer bewegte, als es ihr möglich
war. Unter ihrer Hand bewegte sich etwas auf dem rauen Fels. Vor lauter Ekel schleuderte sie das Insekt oder was immer es war, in einer heftigen Bewegung von sich und glitt auf den glatten Stufen aus. Sie schrie entsetzt auf, als Michel mit seiner Fackel um die nächste Biegung verschwand und sie kaum noch die eigene Hand vor Augen sah. Erst im letzten Moment konnte sie sich fangen.
    Michel kam zu ihr zurück. »Bitte entschuldigt«, sagte er, »ich vergesse immer, wie es hier unten für Fremde sein muss. Aber meine Gedanken sind bei Berta. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät.«
    Etwas langsamer setzten sie ihren Weg fort.
    Nach einer gefühlten Ewigkeit endete die Stiege, und vor ihnen lag ein schmaler Gang. Michels Pechfackel reichte nur mit Mühe bis zum Ende des niedrigen Gewölbes, aber Luzia konnte die schweren eisenbewehrten Türen ausmachen, die in die einzelnen Verliese führten . Während im fahlen Feuerschein riesige Tausendfüßler und große Spinnen flohen, unterdrückte Luzia einen Schrei. Gleich darauf schämte sie sich dafür. Schließlich konnte sie im Gegensatz zu Berta Vögelin das Gefängnis jederzeit wieder verlassen.
    Außer ihren eigenen dumpfen Schritten hörten sie nichts. Es herrschte Totenstille. Luzia trat auf etwas Weiches, von dem sie lieber nicht wusste, worum genau es sich dabei handelte. Ihr war, als atme sie das Leid all jener, die in diesen Mauern den Tod gefunden hatten. Verlassenheit und Seelennot griffen nach ihr und drohten sie zu ersticken.
    Michel blieb vor einer der Türen stehen. Laut quietschend drehte sich der große Schlüssel zweimal im Schloss. Mit aller Kraft zog er die schwere Tür nach außen auf. Langsam, als
schäme sich die Pforte, das Verborgene zu offenbaren, gab sie laut knarrend nach.
     
    Vor ihnen lag eisige Schwärze. Luzia wuchs eine Gänsehaut, die ihr von den Zehen bis zu den Haarspitzen reichte. Der Gestank von faulendem Stroh und verschimmeltem Brot mischte sich mit einem leicht süßlichen Verwesungsgeruch.
    Ihr Blick streifte den Eimer für die Notdurft. Die wenigen Strohhalme glänzten im schwachen Licht der Fackel feucht und schmierig. Ein paar fette Ratten stoben, gestört durch die unerwarteten Besucher, laut fiepend auseinander. In der Dunkelheit leuchteten ihre Augen hell und bedrohlich. Das Licht der Fackel glitt über den nackten Steinboden weiter an der rauen, kalten Felswand entlang und stieß auf einen Krug und ein paar Brocken Brot . Endlich erreichte das Licht Bertas zusammengerollte Gestalt. Dreckige Lumpen bedeckten sie nur dürftig. Schwarze Muster aus getrocknetem Blut überzogen ihre Haut. Beherzt raffte Luzia ihre langen Röcke und kniete sich neben Berta auf den Boden. Als sie sah, dass ihr Bauch flach war, erschrak sie.
    Vorsichtig berührte sie den spindeldürren Unterarm der jungen Frau und schlug die Augen nieder. Berta Vögelin war eine Fremde und doch war sie Luzia in diesen Minuten so nah, als würden sie sich schon Ewigkeiten kennen. Wie alt mochte sie wohl sein? Ihre eingefallenen, grauen

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