Seelenfeuer
Wangen und die tiefliegenden Augen ließen sie sicher älter wirken, als sie war. Zweiundzwanzig, höchstens vierundzwanzig Sommer, älter nicht. Ihre Wangen zeigten Spuren brutaler Schläge, ihr rechtes Auge wirkte fast schwarz und Blut quoll aus einem tiefen Riss unterhalb der Augenbraue. Trotz der Kälte im Kerker
glänzte ihre Stirn schweißnass. Erst jetzt bemerkte Luzia das rote Rinnsal, das sich unter Bertas Leib gebildet hatte.
»Hilf mir, wir müssen sie drehen!«, befahl sie Michel knapp. Vorsichtig legten sie die magere Gestalt auf den Rücken, dabei rutschte ein Bündel aus ihren leblosen Armen. Luzia hielt es für ein Knäuel dreckverkrusteter Lumpen. Sie starrte entsetzt auf Bertas Leib. Bauch und Brust waren blutverschmiert. Michels Blick richtete sich fragend an Luzia. Woher stammte das Blut?
Es herrschte Totenstille. Entlang der Wand tanzten schwarze Schatten, sie kicherten und kamen näher. Leckten mit schwarzen, langen Zungen über den Boden. Schlichen um das Bündel Lumpen wie die Katze um die Maus und griffen danach. Ein Luftzug streifte Luzias Wange. Noch ehe sie das Bündel berührte, wusste sie, was sich in diesem besudelten Stück Stoff befand. Es enthielt Bertas Kind, das sie in der Einsamkeit dieses dunklen Verlieses allein zur Welt gebracht hatte.
Luzias Herz gefror. Sachte schlug sie die Ecken des rauen Stofffetzens zurück. Jetzt erst sah sie, dass es sich um ein Stück aus Bertas härenem Büßergewand handelte. Rau und stachelig wie Sackleinen. Doch das Kind lag still inmitten des Schmutzes und der vielen stacheligen Härchen – und es lebte! Heilige Mutter, es atmete, ja, es atmete! Mit weicher Haut und rosigen Wangen lag es in all den Lumpen und blickte mit großen Augen in das staunende Gesicht der Hebamme. Selbst als Luzia den letzten Fetzen Gewand vom Bauch des Kindes zog, blieb es völlig ruhig. In völliger Dunkelheit war es Berta gelungen, die Nabelschnur durchzubeißen und einen breiten Stoffstreifen um den kleinen, rosigen Bauch zu knoten. Schnell raffte
die Wehmutter die Ecken des Lumpens über dem Kind zusammen. Wie es aussah, war der Knabe völlig gesund, deshalb ließ ihn Luzia zunächst bei seiner Mutter liegen .
Wie auf ein geheimes Zeichen hin öffnete Berta ihre Augen. Zunächst irrte ihr Blick noch suchend umher. Doch schließlich fanden ihre Augen Luzia.
»Wo ist mein Kind?« Ihre Worte waren kaum noch ein Flüstern.
Behutsam strich Luzia über die feuchte Stirn der kranken Frau. Sie glühte vom Fieber.
»Hier ist es.« Vorsichtig legte sie ihr das Bündel auf die Brust.
Sanft umschloss es Berta mit beiden Armen und bewunderte es still. »Es schaut mich an … als verstünde es …, dass ich nicht bei ihm bleiben kann.« Jedes einzelne Wort kostete sie unendliche Kraft.
Luzia nickte. »Schaut ihn Euch an. Er ist wunderschön und Ihr habt alles so gut gemacht, so richtig!«
Ein Lächeln umspielte Bertas müdes Gesicht.
Für einen Moment fielen die Mauern des Gefängnisses. Gaben den Blick frei auf den klaren Horizont in der Ferne. Die Welt stand still. Für die Dauer eines Herzschlags hielt die Zeit ihren Atem an und doch war es eine Ewigkeit. Wie die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne erreichte das Licht für einen Augenblick die düsteren Tiefen des Kerkers und erfüllte das tote Grau mit neuem Leben. Durchtränkte die Mauern mit Atem, wie dieser von Gott verlassene Ort es niemals zuvor gesehen hatte. Selbst das Leid verneigte sich und flüchtete beschämt in die hinterste Ecke.
Für Berta hatte der Tod allen Schrecken verloren. Sie wusste,
ihr Kind würde leben. Selbst dann noch, wenn sie längst vergangen wäre. Sie hatte den alten Wucherer Tod besiegt. Ein bewegtes Raunen kam von Michel.
Luzia wusste, dass die Gefangene keinen weiten Weg mehr vor sich hatte. Rasch wurde die Blutung heller und sehr viel stärker. Der rote Lebenssaft rann unaufhaltsam aus ihrem erschöpften Leib und nahm alles Leben mit sich. So gut es ging, sammelten Luzia und Michel mit bloßen Händen die letzten Strohhalme aus allen Ecken zusammen und betteten Bertas Kopf darauf. Die wenigen Halme unter ihrem Leib waren mittlerweile blutgetränkt, gierig eroberte das Blut auch Luzias Röcke und kündete vom nahen Tod.
»Kannst du denn gar nichts mehr für sie tun?«, flüsterte Michel.
Luzia schüttelte stumm den Kopf. Natürlich könnte sie versuchen, die Blutung zu stoppen. Vielleicht würde Mutterkorn helfen. Doch wie lange durfte Berta dann leben? Nachdem sie jetzt
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