Seelenfeuer
das Kind geboren hatte, gab es keinen Aufschub mehr. Man würde sie in der Schussen ertränken wie eine räudige Katze.
Vor ihren Augen spielte sich das Drama der Berta Vögelin ab. Wie die Büttel sie mit dem Schinderkarren hinaus zur Schussen fuhren. Luzia spürte die neugierigen Blicke der Leute, die am Straßenrand standen, vielleicht waren sogar ihre Nachbarn darunter. Sensationsgierige Blicke, einige zeigten Mitleid. Andere steckten neugierig ihre Köpfe zusammen, zerrissen sich die Mäuler. Ganz Ravensburg würde Zeuge ihrer Pein werden. Zu einer Hinrichtung gab es immer einen regelrechten Volksauflauf. Niemand wollte das schaurige Schauspiel verpassen. Der Henker würde sie in einen Sack
einnähen und in die Schussen werfen. Die Masse würde johlen. Luzia war, als spüre sie sogar die eiskalten Fluten des reißenden Flusses. Ein qualvolles Sterben …
Sie hob die Schultern und sah Berta lange an.
»Bitte, ich bitte Euch von ganzem Herzen, wenn Ihr ein gutes Herz habt, und das habt Ihr«, ein Schluchzen drang aus Bertas Kehle, »dann lasst mich hier in Frieden sterben.«
Luzia nickte stumm. Bertas Kraft ging zu Ende. Müde schloss sie ihre Augen. Tiefe Schatten lagen darunter. Sie verkündeten die Rettung, die in ihrem Fall der Tod war.
»Ich bin nicht bereit, ihr Leiden zu verlängern«, sagte Luzia entschlossen, mehr zu sich selbst als zu Berta oder Michel.
»Er soll …, nennt ihn Vinzenz«, flüsterte Berta matt. »Und bitte versprecht …, dass Ihr ein gutes Plätzchen für ihn finden werdet.«
»Er wird es gut haben. Ich verspreche es Euch.«
Berta nickte. In ihren Augen spiegelten sich Dankbarkeit und Frieden. Ihr Blick glitt ein letztes Mal über ihren neugeborenen Sohn. Behutsam streichelte sie über den kleinen Kinderkopf, leicht und zart wie eine Feder. Mit letzter Kraft schob sie das Kind in Luzias Arme.
Der schöne, schwarze Engel wartete schon eine ganze Weile. Still und leise hatte er an der Wand gelehnt, doch jetzt war seine Zeit gekommen. Wie schon so oft zeigte Azrael Luzia auch heute seine ganze Schönheit. Seine samtene, freundliche Dunkelheit. Die sanften Arme, mit denen er die Seelen der Sterbenden davontrug. Seine weichen Augen, in denen die Ängstlichen Ruhe fanden.
Bertas Hand suchte die der Hebamme. Zum Abschied drückte sie sie. Leicht wie die Schwingen eines Vogels lag Luzias Hand auf Bertas Stirn. Half ihr auf den Weg. Begleitete sie ein kleines Stück hinüber.
Heute freue ich mich über dein Kommen, Azrael, dachte Luzia. Ich werde nicht um ihr Leben kämpfen. Zum Abschied berührte der Engel ganz leicht Luzias Wange. Ein Windhauch nur, und er war fort.
Lange war nur das leise Glucksen des Neugeborenen zu hören. Eine friedliche Ruhe lag über dem Kerker. Und obwohl Michel den Todesboten nicht hatte sehen können, wirkte sein Gesicht andächtig. Dankbar, wenigstens seinen Neffen gerettet zu haben, brach er mit heiserer Stimme das Schweigen: »Ich danke Euch, dass Ihr Berta beigestanden habt. Das werde ich Euch nie vergessen. Niemals!«
Luzia nickte. Michel spürte, wie sie ihm bis auf den Grund seiner Seele blickte. Ein warmes Gefühl durchströmte ihn.
»Das Kind«, Luzia hob das kleine Bündel Mensch in die Höhe, »bringe ich zu den Franziskanerinnen.«
Michel nickte erleichtert. Die Nonnen auf dem Berg über der Marktstraße würden den kleinen Vinzenz sicher bei sich aufnehmen.
Der Weg die steile Treppe hinauf war einerseits beschwerlicher, weil sie den kleinen Vinzenz auf den Armen trug und sehr aufpasste, nicht auszurutschen. Auf der anderen Seite war er leichter, denn er führte sie aus dieser Hölle wieder ins Leben. Luzia verbot sich den Gedanken daran, wer wohl hinter den anderen Türen schmachten mochte. Womöglich noch jemand, der unschuldig war? Sie drückte das Kind an sich und
folgte Michel. Sie hatte hier getan, was sie konnte. Ein Leben hatte sie immerhin gerettet.
In dem Raum der Wachhabenden lauerte Berthold auf sie, die Füße auf dem Tisch, einen Becher Bier in der Hand. Er rülpste laut. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, warf Luzia das zweite Pfeffersäckchen auf den Tisch, wo es in einer Bierlache landete.
Sie war unendlich erleichtert, als sie neben Michel wieder auf der Straße stand. Sie spürte, wie Bertholds Blicke sie noch eine Weile verfolgten.
8
L uzia, so beeil dich doch, sonst kommen wir zu spät zur Messe!«, rief Basilius bereits zum dritten Mal. Luzia spürte Ärger in sich aufsteigen. Immerhin hatte sie
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