Seelenfeuer
Gestirne gab es nicht viel, was die Ärzte den Menschen bieten konnten. Seit dem Konzil von Tours, das 1163 den akademischen Medizinern die Ausübung der Chirurgie verboten hatte, galten chirurgische Praktiken als zweitklassige Medizin. Zudem machten sich die Herren nur ungern ihre Hände schmutzig. Weshalb Amputationen und Operationen zumeist von Baderchirurgen ausgeführt wurden.
»Stell dein Licht nicht unter den Scheffel und erzähle meiner überaus wissbegierigen Nichte von dir«, forderte Basilius seinen Freund auf.
»Nun, das ist nichts so Besonderes, aber, ja, die medizinische Fakultät zu Montpellier achtet im Gegensatz zu anderen medizinischen Schulen darauf, die Chirurgie als wichtigen Bestandteil der medizinischen Tätigkeit zu verstehen. Die Studenten lernen, wie sie dem älteren Menschen wieder zu mehr Sehkraft verhelfen, indem sie den Star stechen, oder wie sie Blasensteine entfernen, bevor die Kranken am Schmerz zugrunde gegangen sind. Wie man brandige Glieder amputiert, ohne den Menschen zu töten, und einiges mehr.«
»Das ist faszinierend«, schwärmte Luzia, und in ihrem Eifer beugte sie sich vor und berührte dabei den Unterarm von Johannes von der Wehr. Dabei spürte sie, wie sich ihre Wangen röteten. Ihr Gesicht kribbelte bereits, als läge sie in einem Ameisenhaufen.
»Ja, die Jahre in Montpellier waren sehr lehrreich und abenteuerlich.
Dort trifft die Medizin der Antike auf die arabischen Wissenschaften, und ich glaube, das Ergebnis kann sich sehen lassen.«
»Unsinn! Neben Salerno genießt die medizinische Schule in Montpellier das höchste Ansehen in der Welt. Dazu findet sich immer nur ein kleiner Kreis von Studierenden zusammen, was auch die Güte der Ausbildung ausmacht«, fuhr Basilius voller Ungeduld dazwischen. Für seinen Geschmack untertrieb Johannes wie immer, wenn er etwas über sich erzählte, doch er kannte Luzia und wusste, dass ihr Interesse zwar geweckt war, aber es für einen bleibenden Eindruck noch ein wenig Vertiefung bedurfte.
Seine Sorge war unbegründet. Luzia hätte den Ausführungen des jungen Arztes noch lange zuhören mögen, seiner Stimme ewig lauschen. Wenn diese Erkenntnis wie eine warme Welle ihre Gedanken umspülte, wollte sie es sich nicht eingestehen und sagte sich, dass es lediglich der Reiz der Medizin war, der sie gefangen hielt und ihr den Kopf verdrehte.
»Wie kommt es, dass sich nur wenige für ein Studium in Montpellier entscheiden, wenn die Welt gerade dieser Medizinschule eine so große Bedeutung beimisst?«
Der junge Medicus räusperte sich. »Das Entgelt, welches an die Professoren zu entrichten ist, beläuft sich auf ein kleines Vermögen«, erwiderte er verlegen.
»Und Ihr verfügt über derartige Summen?«, unterbrach Luzia ihn spitz. Doch gleich darauf ärgerte sie sich über sich selbst. Schließlich hatte sie ihn danach gefragt.
Von der Wehrs Blick verdüsterte sich, ehe er zu erzählen begann: »Mein Vater hat in Überlingen ein einträgliches Geschäft betrieben. Meine Familie war über Generationen hinweg
im Fernhandel tätig. Mutter starb und wenig später folgte Vater ihr nach. Beide wurden innerhalb weniger Stunden von einem Fieber dahingerafft und ich konnte nichts tun, außer ihnen beim Sterben zuzusehen. Das war eine schlimme Zeit, aber sie steht zum großen Glück nicht still. Meine Eltern hinterließen mir ihren gesamten Besitz und ich habe mir geschworen, nie wieder so hilflos zu sein wie damals«, fuhr von der Wehr leise fort und sah zu Boden.
Luzia biss sich auf die Lippe. Sie schämte sich für ihre Taktlosigkeit.
»Es tut mir leid«, sagte sie sanft, doch sie wäre am liebsten in einer Ritze des Eichenbodens verschwunden.
»Das konntet Ihr nicht wissen«, versicherte er, und ein einnehmendes Lächeln bestätigte seine Worte.
»Darf ich Euch beiden noch einen Schluck von diesem fabelhaften Wein einschenken?«, durchbrach Basilius die darauffolgende Stille. »Und du, sei so gut, lauf in die Küche und hole uns noch ein wenig von deinem Honigkuchen.«
Während Luzia die Wohnstube verließ, fühlte sie von der Wehrs Blick auf sich ruhen.
»Wollt Ihr mir noch ein wenig mehr von Eurer Ausbildung erzählen?«, fragte sie, als sie kurze Zeit später den Zinnteller mit Honigkuchen vor ihm auf den Tisch stellte.
»Wenn Ihr möchtet, erzähle ich Euch von dem Hospital, in dem wir bis zum Umfallen arbeiten mussten.«
»Unbedingt!« Luzia konnte ihre Ungeduld kaum zügeln.
»Der Hochschule war nach arabischem Vorbild
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