Seelenfeuer
berittene Bote an die Tür klopfte, fuhr sie erschrocken zusammen. Ihre Gedanken waren schon wieder davongeflogen.
Der Kurier übergab ihr eine große braune Holztruhe. Für Jungfer Luzia Gassner stand in großen Lettern auf dem zusammengefalteten Pergament, das ihr der kleine Mann ebenfalls übergab. Beim Anblick der geschwungenen Schrift wurde Luzia ganz heiß. Eilig ging sie zurück ins Haus und entfaltete den Brief.
Liebe Luzia,
ich hoffe, du bist gesund und es geht dir gut.
Elisabeth, Jakob und ich dachten, dass wir dir eine kleine Freude machen, und so haben wir diese Truhe gepackt und schicken sie auf den Weg zu dir nach Ravensburg. Ich bin sicher, dass dir die Schneerose gefallen wird. Die Helleborus niger, oder auch Christrose, blüht, wenn alles andere im Dunkeln der winterlichen Nacht erstarrt ist. Sie ist ein Bildnis der Hoffnung und des neuen Lebens.
Schon Pedanios Dioscurides, der berühmteste Pharmakologe des Altertums, empfahl die Wurzel bei Frauenleiden. Darüber hinaus ist sie hilfreich bei Kurzatmigkeit und Brustenge. Doch Vorsicht! Die Pflanze ist giftig, doch wie immer macht allein die Menge das Gift.
Halte sie in Ehren und pflege sie gut, dann wirst du viel Freude an ihr haben.
Außerdem schicke ich dir noch eine wirklich gute Abschrift des zweiten, dritten und vierten Buches des Kanons der Medizin von Avicenna. Alle Bände umfassen die allgemeinen Krankheiten und ihre Therapien sowie die Auflistung der Medikamente, eingeschlossen sind die Erkrankungen der Frau, wodurch die Bücher für dich besonders interessant werden.
Ich weiß, dass es schon ewig dein Wunsch ist, in diesen Seiten zu blättern. Ich wünsche dir viel Freude beim Studieren dieser groβartigen Werke.
Elisabeth und Jakob geht es gut, sie haben auch noch etwas in die Weihnachtskiste gepackt. Es ist der letzte Fisch, den Jakob noch vor dem großen Eis gefangen hat. Inzwischen ist der ganze Bodensee mit einer durchgängigen Eisplatte verschlossen. So etwas haben wir noch nie erlebt! Bruder Markus vom Kloster Reichenau sagt, dass dieses Phänomen höchstens einmal alle hundert Jahre vorkommt.
Es ist ein wenig unheimlich und ich fürchte, wir gehen sehr gefährlichen Zeiten entgegen. Auf der anderen Seite des Sees, in Konstanz, geschehen derzeit furchtbare Dinge. Die Konstanzer ließen nicht davon ab, einige Frauen der Hexerei zu bezichtigen. Für kurze Zeit beherbergten sie einen Inquisitor. Dieser konnte laut Bruder Markus bereits eine Hebamme überführen. Die angebliche Hexe wurde auf dem Marktplatz verbrannt. Dieser neue Hexenwahn ist ganz entsetzlich und lehrt selbst mich das Fürchten.
Ich bin sehr froh, dich weit weg vom See zu wissen. Das Beste wäre, du könntest dich entschließen, bald zu heiraten. Eine verheiratete Frau genießt nun einmal ein höheres Ansehen und einen gewissen Schutz.
Ich sehe dich vor mir, wie du bei diesen Zeilen die Augen verdrehst, aber ich bitte dich, denk einmal darüber nach. Mit diesen Worten spreche ich auch Jakob aus dem Herzen, und wenn ich mich nicht täusche, wäre auch Basilius an einer baldigen Heirat gelegen.
Elisabeth und Jakob lassen dich und natürlich auch Basilius herzlich grüßen und wünschen euch das Beste. Genau wie
ich vermissen sie dich an jedem Tag. Du warst die Sonne meiner alten Tage.
Nicht zuletzt bat mich Matthias, dir seine besten Wünsche zu übermitteln. Er ist übrigens noch immer ohne Frau. Ich würde mich sehr freuen, wenn du uns wieder einmal schreibst. Deine Briefe sind in letzter Zeit recht rar geworden.
Liebe Luzia, unsere Gedanken sind bei euch, und nun wünsche ich dir und deinem lieben Onkel ein gesegnetes Christfest und Gottes Segen für das neue Jahr.
Pater Wendelin, Pfarrherr zu Seefelden am Bodensee.
Zur heiligen Christnacht im Jahre des Herrn 1483.
Mit fliegenden Händen hob Luzia den Deckel an. Sie hatte schon einmal eine Abbildung der Christrose gesehen und konnte es kaum erwarten, diese kostbare Pflanze nun in Natur zu sehen. Behutsam hob sie die Schneerose aus der Truhe und befreite sie von der Strohmatte, mit der der Pater sie gegen Stöße und Kälte geschützt hatte. Die weißen Blüten waren bereits geöffnet und lächelten Luzia freundlich entgegen. Vorsichtig berührte sie die weichen Blütenblätter. Sie sah sich um und stellte die Pflanze dann vor das Westfenster in der Wohnstube. Hier würde sie sie am besten im Auge behalten können, bis die Erde wieder frostfrei wurde und die Pflanze in den Garten durfte.
Unten in
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