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Seelenfeuer

Seelenfeuer

Titel: Seelenfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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krümmen sich die Zehen reflexartig nach unten. Bei einem gelähmten Bein tun sie das nicht. Aber
deine
Zehen krümmten sich. Das hat mich stutzig gemacht.«
    Selene stand auf und trat zu Rani an die Tür. »Was geschah, als man dich hierherbrachte?« fragte sie.
    »Zuerst wollte ich fliehen«, antwortete Rani. »Ich wollte mich als Knabe verkleiden und durch die Welt wandern.« Sie seufzte. »Aber ich wurde bis zum Vorabend der Hochzeit in mein Zimmer eingesperrt. In meiner Not erfand ich das Fieber und tat hinterher so, als könne ich meine Beine nicht mehr gebrauchen. Ich wußte, der Mann würde mich dann nicht mehr haben wollen.«
    Sie wandte sich Selene zu. »Von diesem Fußreflex, den du mir eben erklärt hast, wissen wir hier nichts. Ein Glück vielleicht, sonst hätte man meinen Betrug wohl längst entdeckt. Ich ließ das Kneifen und die Nadelstiche der Ärzte über mich ergehen, bis man mich schließlich in Ruhe ließ und vergaß. Der Prinz heiratete eine andere, und ich wurde die Bedauernswerte.«
    Ranis leise Stimme vermischte sich mit dem Wispern des Regens, der auf Gras und Blätter fiel. Sie erzählte von ihren ersten sechs Jahren der Einsamkeit, wie sie sich mit dem Astrologen angefreundet hatte, als der gekommen war, ihr das Horoskop zu stellen, wie er ihr Lesen und Schreiben beigebracht, und wie sie schließlich an ihrem achtzehnten Geburtstag Dr.Chandra ins Leben gerufen hatte, um sich frei im Palast bewegen zu können.
    »Nimrod hat mir geholfen. Er besorgte mir die Männerkleidung und den falschen Bart, und er führte mich im Pavillon als Dr.Chandra ein. Ich hielt mich im Hintergrund, sprach wenig, beschränkte mich aufs Zusehen und aufs Lernen. Eigentlich war mein Plan, als Dr.Chandra aus dem Palast fortzugehen und in die großen Städte der Wissenschaft zu reisen. Aber – irgendwie ist es nie dazu gekommen.«
    Ihr Doppelleben im Palast hatte angefangen, ihr Spaß zu machen – ein geachteter Arzt bei Tag, der alle Vorrechte der Männer genießen konnte; eine verwöhnte Prinzessin bei Nacht.
    »Meine Sklavinnen hielten alle Besucher fern, indem sie behaupteten, ich schliefe bei Tag. Aber im Grunde hatte man mich sowieso vergessen. Nur wenige versuchten, mich zu sehen. Es war eine ideale Situation. Ich konnte lernen und studieren, wonach mich verlangte. Ich konnte mich mit all den Dingen befassen, die den Frauen verboten waren: mit Büchern, mit der Heilkunde, mit den Sternen über Nimrods Himmelsobservatorium. Der Preis dafür war mein Leben als normale Frau. Ich wußte von Anfang an, daß ich, wenn ich diesen Weg einschlagen sollte, auf Liebe, Ehe und Kinder würde verzichten müssen. Man hätte mich mit dem Tod bestraft, wenn entdeckt worden wäre, daß ich mich als Mann verkleidet hatte.«
    Sie seufzte wehmütig. »Als ich doch einmal nahe daran war, mich zu verlieben, als ein Arzt im Pavillon mir gefährlich zu werden begann, tötete ich das Gefühl in mir ab. Niemand merkte etwas, am wenigsten der junge Arzt, dem meine Liebe galt. Er verließ den Palast einige Jahre später …«
    »Warum bist du nie fortgegangen?« fragte Selene.
    Rani sah Selene an. »Warum hätte ich fortgehen sollen? Nach einer Weile erschien mir dieses Leben so ideal, daß die Außenwelt mich gar nicht mehr lockte. Aber jetzt lockt sie mich wieder. Mit Macht. Und das habe ich dir zu verdanken, Selene. Ich sehe jetzt, daß ich alles gelernt habe, was ich hier lernen konnte. Es ist Zeit für mich, in die Welt hinauszugehen. Als Nimrod mir sagte, daß die Sterne ein Ende dieses Lebens ankündigten, hatte ich große Angst. Ich fragte mich, ob ich von hier fortgehen oder ob ich vielleicht sterben würde. Und dann kamst du.« Sie berührte Selenes Arm. »Du hast mich an die lang vergessenen Wünsche meiner Kindheit erinnert. Eine Heilkundige zu werden und die Welt zu sehen.«
    Ihre braunen Augen wurden feucht. »Selene«, flüsterte sie drängend, »so vieles möchte ich sehen, so vieles tun. Ich kann so viel lernen und ich habe so viel zu bieten. Ich bin achtundvierzig Jahre alt, es ist Zeit, daß mein Leben beginnt. Selene, nimm mich mit.«

41
    Selene und Wulf hatten die ganze Nacht gestritten, und nun sagten sie einander Lebewohl.
    Am Ende hatte Wulf nachgegeben. Selene wollte in Persien bleiben und erst im Frühling dann nach Süden ziehen. Doch er mußte weiter; Gaius Vatinius war wieder am Rhein, Wulf war schon zu lange fortgewesen.
    »Du mußt deinem Schicksal folgen«, hatte Selene zu ihm gesagt, »und ich dem

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