Seelenfeuer
meinen.«
Sie hatten gestritten und geweint, und nun, während der östliche Horizont sich rosig färbte, hielten sie sich ein letztes Mal im Arm.
Ihn fest umschlungen haltend, dachte Selene: Dies ist nicht nur der Beginn eines neuen Tages; dies ist der Beginn eines neuen Lebens. Schreib Andreas einen Brief, hatte Rani sie gedrängt. Wir schicken ihn mit einem königlichen Boten. Ich werde Anweisung geben, daß der Bote in Antiochien nach Andreas suchen soll. Spätestens im Frühjahr wirst du Antwort haben, Selene.
Selene legte ihren Kopf an Wulfs Hals und weinte. Schon fühlte sie, wie die zwei gemeinsamen Jahre zu verschwimmen begannen; während sie ihn noch festhielt, seine körperliche Nähe spürte, schien er schon in Erinnerung zu zerfließen.
Liebster Gefährte in Not und Exil, flüsterte ihre Seele, du wirst immer bei mir sein, in meinem Herzen und in dem Kind, das ich unter dem Herzen trage …
Sechstes Buch
Jerusalem
42
An einem Strick, mit gefesselten Händen, wurde das Mädchen durch die Straßen gezerrt. Eine zornige Menge folgte ihr schimpfend und steinewerfend.
Selene, die wußte, was gleich geschehen würde, blieb stehen und suchte in der dichtbevölkerten Straße mit wachsender Besorgnis nach Rani und Ulrika. Mehrmals schon, seit sie nach Jerusalem hineingekommen waren, waren sie voneinander getrennt worden, und jetzt begann Selene unruhig zu werden. Sie mochte diese lärmende, von Menschen wimmelnde Stadt nicht, und die explosive Stimmung der Bevölkerung machte ihr Angst.
»Rani!« rief sie laut, als sie die beiden endlich entdeckte. »Ulrika! Ich bin hier drüben.«
Aber die Menge, die dem gefesselten Mädchen folgte, trennte sie. Selene winkte, um Rani und Ulrika zu bedeuten, daß sie bleiben sollten, aber die beiden sahen sie nicht und wurden vom Strom der Menschen fortgerissen. Nein! dachte Selene entsetzt. Ulrika darf das nicht sehen.
Die Frühlingsfeiern waren der Grund dafür, daß Jerusalem so voller Menschen war. Die judäische Landschaft außerhalb der Stadtmauern bot ein friedliches Bild leuchtender Frühlingsfarben. Wilde Tulpen, gelbe Krokusse und blutrote Anemonen blühten in den Wiesen; in den Obstgärten beschnitten die Bauern ihre Bäume; Büsche und Sträucher standen in Blüte; an den Feigenbäumen hingen schon kleine grüne Früchte. Innerhalb der Stadtmauern jedoch wälzten sich Ströme von Pilgern, füllten Tavernen und Herbergen, Erregung lag in der Luft, die Stimmung war gereizt.
Was, dachte Selene, mochte das Mädchen getan haben, daß man es wie eine Verbrecherin durch die Straßen schleifte?
Sie versuchte, sich durch das Gewühl zu drängen, um Rani und ihre Tochter zu erreichen, aber vergeblich. Und plötzlich drückte ihr zu ihrem Entsetzen jemand einen Stein in die Hand.
»Rani!« rief sie wieder, doch die Menge, die jetzt das Ende der Straße erreicht hatte, flutete in einen kleinen Platz und riß Selene mit sich fort. Die Köpfe von Rani und Ulrika waren plötzlich nicht mehr zu sehen.
Unter erregtem Geschrei drängten die Leute auf den kleinen, sonnenbeschienenen Platz, und das gefesselte Mädchen wurde an eine Mauer gestellt.
»Nein!« flüsterte Selene und versuchte verzweifelt, sich durch die Menge zu drängen. Als ihr beinahe ihr Medizinkasten von der Schulter gerissen wurde, nahm sie ihn mit einer Hand an ihre Brust. Sie konnte Rani nirgends entdecken, und auch Ulrika war verschwunden.
In dem freien Raum, den die Menge rund um das Mädchen gelassen hatte, stand jetzt ein Mann und sprach mit donnernder Stimme zu den Leuten. Er gebrauchte Wörter wie ›Hure‹, ›Sünderin‹, ›Verräterin‹, und die Menge gab ihm kreischend Antwort. Von neuer Furcht gepackt, verdoppelte Selene ihre Anstrengungen, um zu ihrer Tochter zu gelangen. Doch die Reihen aus Männern und Frauen, ja, sogar Kindern, waren so dicht geschlossen, daß an ein Durchkommen nicht zu denken war.
Wider eigenen Willen drehte sie den Kopf und sah zu dem freien Platz hinüber, wo mit gesenktem Kopf das Mädchen an der Mauer stand. Sie ist ja noch ein Kind, dachte sie.
Der Mann, der zur Menge sprach, schrie geifernde Worte der Verdammnis. Selene konnte nur Wortfetzen hören. ›Das Gesetz‹, verstand sie, und ›die heilige Schrift‹. Dann sah sie, wie der Mann seinen Platz verließ und sich in die Menge einreihte.
Gleich darauf flog der erste Stein. Er verfehlte das Mädchen, das immer noch mit gesenktem Kopf dastand, die Hände auf dem Rücken gebunden. Der nächste Stein
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