Seelenglanz
unmittelbar neben dem Motel gelegenen Diner. Der Laden war schmutzig und alt, und die Klimaanlage gab sich alle Mühe, ihn in ein arktisches Paradies zu verwandeln, doch das interessierte mich ebenso wenig wie das Lächeln der Bedienung, die mich in eine ruhige Nische führte. Ich bestellte ein Bier, ließ es aber unangetastet vor mir stehen und starrte auf die Kondenswassertropfen, die an der Außenseite des Glases herunterliefen und einen nassen Ring auf dem Tisch hinterließen.
Ich hätte Jules nicht allein lassen dürfen. Ganz egal wie wütend sie war, sie war immer noch in Gefahr. Aber was machte das schon? Sie war schließlich nicht der erste Mensch, den ich im Stich ließ. Jetzt griff ich doch nach meinem Glas und setzte zu einem Schluck an.
Verflucht! Nicht Jules! Ich würde sie nicht hängen lassen!
Ohne getrunken zu haben, knallte ich das Glas auf den Tisch zurück und wollte gerade aufstehen, um zum Motel zurückzukehren, als Jules zur Tür hereinkam. Halb war ich darauf gefasst, dass sie nur Hunger bekommen hatte und noch in dem Augenblick davonstürmen würde, in dem sie mich entdeckte. Als sie mich jedoch sah, hielt sie auf meinen Tisch zu und setzte sich mir gegenüber auf die Bank. Sie war blass und ihre Augen rot und geschwollen, als hätte sie geweint.
»War das wirklich Luzifer?« Sie klang jetzt wieder ganz ruhig. » Der Luzifer?«
Ich nickte. Für eine Weile saßen wir uns schweigend gegenüber. Als die Bedienung an unseren Tisch kam, bestellte Jules eine Cola und verfiel danach sofort wieder in Schweigen. Ich wollte sie bitten, etwas zu sagen, mich meinetwegen anzuschreien oder zu beschimpfen – alles war besser als diese eisige Stille, die sich wie eine Glocke über unseren Tisch gelegt hatte.
»Also gut«, brach sie endlich ihr Schweigen. »Erzähl es mir.«
»Was willst du wissen?«
»Die Wahrheit.«
Die wollte sie ganz bestimmt nicht hören.
Als hätte sie meine Gedanken erraten, fügte sie hinzu: »Ich muss wissen, was hier los ist. Hilf mir, das Bild wieder geradezurücken, das ich von dir habe.«
»Wenn ich dir das erzähle, wird es das Bild zerstören, das du von mir hast.«
Der Blick, mit dem sie mich daraufhin bedachte, führte mir vor Augen, dass das bereits geschehen war. Wenn ich ihr jetzt alles erzählte, konnte das vermutlich nichts mehr retten, aber vielleicht würde es ihr helfen, mein Handeln zumindest zu verstehen und mir eines Tages womöglich zu verzeihen.
»Ich bin nicht der strahlende Engel, für den du mich gehalten hast.«
»Was du nicht sagst.«
Als ich ihr dieses Mal meine Geschichte erzählte, war daran nichts mehr gelogen und auch nichts beschönigt. Ich berichtete ihr von Luzifers Plan, mich Oben einzuschmuggeln und für ihn zu spionieren, und davon, wie ich stattdessen bei den Schutzengeln gelandet war und seitdem versucht hatte,den Job wieder loszuwerden. Nach und nach offenbarte ich ihr mein ganzes Dilemma: die Auseinandersetzung mit Shandraziel; die Schutzengel, die ich nicht haben wollte und die mich ebenso wenig wollten; und meine letzten Begegnungen mit Luzifer, die mich an so vielem zweifeln ließen, woran ich so lange geglaubt hatte. Ich ließ ihr gegenüber all meine Masken fallen und zeigte mich ihr zum allerersten Mal, wie ich wirklich war, mit all meinen Makeln. Jules unterbrach mich nicht ein einziges Mal. Sie saß still da, die Hände um ihr Glas gelegt, und hörte zu.
»Jetzt weißt du alles über den wahren Kyriel, den du immer kennenlernen wolltest«, sagte ich am Ende. »Du hattest von Anfang an recht: schwarze Flügel – schwarze Seele.«
Jules verdrehte die Augen. »Zumindest scheint das Manipulative tatsächlich ein Bestandteil deiner Persönlichkeit zu sein.«
Ich runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«
»Auf dem Dach, als ich zum ersten Mal deine Flügel sah, hast du alles getan, um mich davon zu überzeugen, was für ein Vorurteil das doch sei, dass alle Menschen glaubten, Schwarz stünde für böse und Weiß für gut. Und jetzt versuchst du mir das Gegenteil zu verkaufen, weil das für dich gerade opportun ist.«
Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was sie damit sagen wollte. Außer vielleicht, dass ich genau das Arschloch war, als das ich mich eben in meiner Erklärung geoutet hatte.
»Solange es dir gelegen kam, der gute Engel zu sein, hast du diese Rolle ausgefüllt, und jetzt, wo es dir sicherer erscheint, der Gefallene zu sein, schlüpfst du in diese Rolle«, fuhr Jules fort. »Aber weißt du, was ich
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