Seelenglanz
gesagt, dass ich nur kurz weg bin.«
»Ich weiß, wo du warst.«
Endgültig misstrauisch geworden gab ich sie frei und schob sie ein Stück von mir, um ihr in die Augen sehen zu können. »Jules, was ist hier los?«
»Ich habe es gesehen!«, rief sie aufgeregt. »Ich habe gesehen, dass er dich umbringen wollte! Ich dachte …«
Plötzlich hatte ich eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was mit Luzifers Stein des Sehens passiert war. »Zeig mir deine Hand.«
»Was?« Sie blinzelte überrascht.
»Deine Hand.«
Sie streckte mir ihre Rechte entgegen, aber ich schüttelte den Kopf. »Die andere.«
Shandraziel benutzte immer die linke Hand.
Als Jules zögerte, griff ich nach ihrem Arm, hob ihre Hand und drehte sie herum. Im Raum war es dämmrig, sodass ich sie zum Nachttisch ziehen musste, um im Schein der Lampe etwas zu erkennen. Ich musste nicht lange suchen, bis ich den winzigen Einstich an ihrem Zeigefinger fand.
Es war das erste Mal, dass ich verstand, was es bedeutete, wenn die Menschen sagten, etwas hätte ihnen den Boden unter den Füßen weggezogen. Genauso fühlte ich mich jetzt. Wie vor den Kopf geschlagen ließ ich ihre Hand los, taumelte einen Schritt zurück und sank auf die Bettkante.
Jules setzte sich neben mich und legte mir eine Hand auf den Arm, ihre Finger fühlten sich warm an. Und lebendig. Aber war sie das überhaupt noch? Hatte Shandraziel meine Abwesenheit genutzt, um das zu vollenden, was sie mit den Schlaftabletten selbst nicht geschafft hatte?
»Wie hat er dich gefunden?«
»Er war dort, als du kamst, und wurde mit den anderen fortgeschickt«, sagte sie. »Als du da unten warst, konnte er meine Signatur spüren.«
Verflucht! Ich hätte damit rechnen müssen, dass Luzifers Macht meine Fähigkeiten einschränkte. Der Schleier, den ich über ihre Signatur gelegt hatte, musste in dem Augenblick zusammengebrochen sein, in dem ich die Höhle betreten hatte.
»Ich musste es tun«, fuhr sie leise fort. »Ich hätte es nicht ertragen, dich zu verlieren.«
Ich hätte sie niemals mit hierher nehmen dürfen. Ich hätte verdammt noch mal nicht zulassen dürfen, dass sie mir nahekommt. Dass sie mich mag. Oder dass ich etwas für sie empfand. Ich wollte sie anschreien, wollte wenigstens das Zimmer in seine Einzelteile zerlegen, wenn ich Shandraziel schon nicht in die Finger bekommen konnte, doch ich konnte nichts anderes tun, als in diese Augen zu starren. Diese wunderschönen grauen Augen.
Und dann küsste ich sie.
Es war das Dümmste, was ich in diesem Moment machen konnte, und gleichzeitig das Einzige, was ich tun wollte. Ich legte eine Hand in ihren Nacken, vergrub sie in ihrem Haar und zog sie zu mir heran. Anfangs berührten meine Lippen die ihren nur sanft, doch bald schon legte ich all meine Wut und meinen Kummer in diesen Kuss. Ich stürmte mit meinem Mund, meiner Zunge und meinen Zähnen auf sie ein, und Jules erwiderte meinen Angriff mit derselben verzweifelten Leidenschaft. Ihr Atem ging jetzt schneller. Ich zog sie auf meinen Schoß und vertiefte den Kuss, doch trotz des sehnsüchtigen Ziehens in meinen Lenden, ging ich nicht weiter. Es erstaunte mich selbst, dass ich ihr das Handtuch nicht längst vom Leib gerissen, sie in die Kissen gedrückt und mich tief in ihr vergraben hatte. Für gewöhnlich war ich nicht so zögerlich.
Mir wurde jedoch rasch klar, warum ich mich trotz allen Verlangens noch immer zügelte. Dies war weder der rechteOrt noch die rechte Zeit, und es waren schon gar nicht die passenden Umstände, um mich gehen zu lassen.
Ich ließ meinen Kuss weniger stürmisch werden und beendete ihn mit einer zärtlichen Berührung ihrer Lippen.
Ohne sie aus meinen Armen zu lassen, suchte ich ihren Blick. »Ich werde deine Seele zurückholen.«
»Er bekommt sie erst nach meinem Tod.«
Dann hatte er sie also nicht umgebracht und sie war noch nicht wiedergeboren worden. Erleichtert schloss ich die Augen, öffnete sie aber sofort wieder. »Geh und zieh dich an. Wir verschwinden von hier.«
Da ich sie ohnehin nicht länger vor Shandraziel verbergen konnte, verzichtete ich darauf, den Schleier über ihrer Signatur zu erneuern. Ich würde sie zu Akashiel bringen, ehe ich mich auf die Jagd nach Shandraziel und auf die Suche nach Jules’ Seele machte. Und wenn es das Letzte war, was ich tat.
Jules kletterte von meinem Schoß und ging nach nebenan.
»Lass die Tür offen!«, rief ich ihr hinterher und wollte noch hinzufügen, dass sie sich beeilen solle. Doch dazu kam ich
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