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Seelenglanz

Seelenglanz

Titel: Seelenglanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Melzer
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die Umrisse ihrer Umgebung preis. Anfangs nur schemenhaft erkannte sie die Müllcontainer, Hauseingänge und Kellertreppen bald immer deutlicher. Jules hoffte darauf, ein Versteck zu finden, doch erst musste sie ihren Abstand weiter vergrößern. Solange Shandraziel sah, wohin sie lief, gab es kein Entrinnen.
    Am Ende der Gasse bog sie nach links ab, überquerte eine schmale, wenig befahrene Straße und verschwand in der nächsten engen Durchfahrt, noch ehe der Gefallene die offene Straße erreicht hatte. Es würde ihn wertvolle Sekunden kosten, sich zu orientieren und für eine Richtung zuentscheiden. Sekunden, die Jules nicht ungenutzt verstreichen lassen wollte. Sie steigerte ihr Tempo noch weiter, bis die Häuserwände nur so an ihr vorüberflogen. Eine einzige graue Linie, als säße sie in einem Zug und beobachtete, wie die Landschaft an ihr vorbeiglitt. Aus der Ferne glaubte sie Shandraziel zu hören, vielleicht war es auch nur das Echo ihrer eigenen Schritte, das sie in die Irre führte. Als sie sich jedoch umsah und eine schemenhafte Gestalt am Eingang der Gasse erblickte, wusste sie, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Er hatte seine Gemächlichkeit abgelegt, doch Jules konnte ebenfalls rennen, wenn es darauf ankam. Wilde Haken schlagend bahnte sie sich ihren Weg durch ein Gewirr aus Gassen und Hinterhöfen, sprang über Mauern und Zäune hinweg und baute ihren Vorsprung zu Shandraziel immer weiter aus.
    Als sie sich wieder nach ihm umdrehte und erleichtert feststellte, dass sie zwar seine Schritte zu hören glaubte, ihn aber nicht länger sehen konnte, sah sie sich nach einem Versteck um. In regelmäßigen Abständen gab es Türen, eingebettet zwischen Müllcontainern, die sich wie eine Reihe stummer Soldaten an der Wand aufreihten. Keine schien offen zu sein. An jedem Griff zu drehen, um zu prüfen, ob sie tatsächlich abgesperrt waren, würde sie zu viel Zeit und schnell auch ihren Vorsprung kosten. Deshalb lief sie weiter. Bis sie in einer anderen Gasse eine angelehnte Metalltür entdeckte, zu der ein paar ausgetretene Steinstufen hinunterführten.
    Es war einfach perfekt!
    Jules lief die Stufen nach unten, schob die Tür ein Stück weiter auf und schlüpfte in die dahinterliegende Dunkelheit. Sie war versucht durch den Spalt hinauszuspähen, fürchtete jedoch, dass Shandraziel die offene Tür ebenso bemerken würde wie sie. Vorsichtig, um nur kein Geräusch zuverursachen, drückte sie die Tür ins Schloss. Außer Atem und mit vor Anstrengung zitternden Beinen glitt sie hinter der Tür auf den Boden. Ein Fenster gab es hier nicht, sodass sie nicht sehen konnte, was draußen vor sich ging. Vielleicht konnte sie ja etwas hören. Sie legte ein Ohr an die Tür. Das Metall fühlte sich kalt unter ihrer erhitzten Haut an, so kalt, dass es ihr einen Schauder über den Rücken jagte. Außer ihrem eigenen Herzschlag, den schnellen Atemzügen und dem Blut, das in ihren Ohren rauschte, hörte sie nichts.
    Ihren Verfolger weder sehen noch hören zu können, nicht zu wissen, ob es ihr gelungen war, ihn abzuhängen, war Folter pur.
    Jules wusste nicht, wie viel Zeit verstrich. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, die sie nun schon hier im Dunkeln saß, es konnten aber ebenso gut erst zwei oder drei Minuten vergangen sein. Da ihre Uhr keine Beleuchtung hatte und ihr Handy unter Shandraziels Blick zu Elektroschrott zerfallen war, gab es nichts, woran sie das Verstreichen der Zeit hätte ablesen können. Anfangs versuchte sie die Sekunden zu zählen, doch ihre Gedanken sprangen so wild hin und her, dass sie jedes Mal den Faden verlor und letztlich nicht mehr wusste, wie oft sie nun schon bis sechzig gezählt hatte. Oder ob sie überhaupt richtig gezählt hatte.
    Am schlimmsten war die Angst um ihre Mutter.
    Die Vorstellung, Shandraziel könnte seine Suche abblasen und zu der Wohnung gehen, um ihr etwas anzutun, war kaum auszuhalten.
    Immer wieder sagte sie sich, dass er nicht wusste, wo sie wohnte. Andernfalls hätte er sie wohl schon viel früher aufgesucht. Spätestens nachdem Kyriel sie letzte Nacht nach Hause gebracht hatte. Ihre Signatur war abgeschirmt, und solange es Shandraziel nicht gelang, sie bis nach Hause zuverfolgen, konnte er weder sie noch ihre Mutter dort aufspüren.
    Jules schloss die Augen und versuchte die Kälte zu vertreiben, die ihr durch die regennassen Sachen langsam unter die Haut und in die Knochen kroch. Einmal glaubte sie draußen Schritte zu hören gefolgt von einem gedämpften Fluch.

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