Seelenglanz
ich es jedoch nicht über mich, sie so unfreundlich abzubügeln. »Ich beschränke meinen Kontakt zu Menschen auf das nötige Mindestmaß.« Genau wie den zu Engeln.
Sie sah mich mit einem schiefen Lächeln an, dann zuckte sie die Schultern. »Ich bin kein Mensch – zumindest nicht nur.«
Ich verzog das Gesicht und richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf die Karte mit den Notausgängen, die ich mittlerweile auswendig kannte. Inklusive der Anzahl aller eingezeichneten Striche, die die Bodenbeleuchtung darstellen sollten, die einem den Weg zu den Ausgängen wies.
»Es muss schwer sein«, fuhr sie fort.
Ganz sicher war es schwer, mich auf meine Lektüre zu konzentrieren, solange ich ständig von der Seite angequatscht wurde. Seufzend ließ ich die Karte sinken. Obwohl ich nichts hatte sagen wollen, hörte ich mich fragen: »Was ist schwer?«
Sie stellte ihren leeren Becher auf mein Tischchen, klappte ihr eigenes nach oben und wandte sich mir zu. »Einsam zu sein. Unter den Menschen zu leben, Teil dieser Welt zu sein und gleichzeitig so viel Distanz zu allem und jedem zu haben. Haben zu müssen. Allein schon aus Angst, dass jemand herausfinden könnte, was du wirklich bist.«
Das hatte noch nie jemand herausgefunden und es würde auch nie geschehen. Mit einem hatte sie jedoch recht: Ich lebte unter den Menschen, ohne Kontakt zu ihnen zu haben – von denen einmal abgesehen, die mein jeweiliger Auftrag waren. Ein wenig war es wie ein Dasein hinter Glas, als beobachteteman das Leben, das sich auf der anderen Seite abspielte, ohne selbst daran teilzuhaben.
Als Seelenfänger hatte ich deutlich mehr Kontakt zu den Menschen gehabt als jetzt. Ich hatte mich in ihr Leben gedrängt und sie manipuliert, um zu erreichen, was ich erreichen wollte. In meiner Position als Schutzengel beschränkte sich mein Kontakt zur Außenwelt auf flüchtige Begegnungen im Supermarkt, in einem Restaurant oder mit Passanten, an denen ich auf der Straße vorüberkam. Niemand nahm von mir Notiz und niemand unterhielt sich mit mir über den üblichen Small Talk hinaus. Diejenigen, zu denen mich meine Aufträge führten, wussten nicht einmal von meiner Existenz. Mein soziales Leben beschränkte sich auf Akashiel und gelegentliche Begegnungen mit Rachel oder Japhael. Das war vielleicht armselig, aber einsam war ich deshalb noch lange nicht.
Mein Dasein als Schutzengel war nur ein Auftrag, und sobald er erledigt war (es würde mir schon gelingen, Luzifer davon zu überzeugen, jetzt nicht alles hinzuschmeißen), konnte ich in mein gewohntes Leben zurückkehren.
Alles war bestens.
Versonnen nippte ich an meinem Tomatensaft. Warum tranken die Leute im Flieger diese Plörre? Sie schmeckte schon auf dem Boden beschissen, und durch die Höhe wurde sie auch nicht besser!
Plötzlich traf es mich wie ein Blitz! Ich hatte mir die ganze Zeit über etwas vorgemacht. Wenn ich es wirklich schaffte, meinen Job loszuwerden und nach Oben zu kommen, würde ich dort Jahrhunderte oder Jahrtausende bleiben müssen. Das war keine der üblichen Missionen, bei denen man mal eben einen Auftrag erfüllte und danach nach Hause zurückkehrte. Es war eine Mission, die mich in ein neues Leben zwang. Ein Leben, das so lange andauern würde, bisLuzifer mich abberief oder ich enttarnt und aus dem Himmel geworfen oder umgebracht werden würde. So oder so: Mein altes Leben würde nicht länger existieren. Und das für eine verdammt lange Zeit. Vielleicht für immer. Wie lange würde ich es bei dem arroganten Himmelsvolk aushalten, wenn mich schon das Leben unter den Schutzengeln in den Wahnsinn trieb?
»Vor mir brauchst du dich jedenfalls nicht zu verstellen«, unterbrach Jules meine Gedanken. »Ich kenne dein Geheimnis.«
Du hast ja keine Ahnung. »Jules, hör auf, mein Leben zu analysieren.«
»Warum?«, wollte sie wissen, statt sich einfach in beleidigtes Schweigen zu flüchten.
Weil du mich dazu bringst, über Dinge nachzudenken, über die ich nicht nachdenken will. »Du kennst mich zu wenig, um ein Urteil über mich zu fällen«, sagte ich unfreundlich und steckte meine Nase wieder in die Notfallkarte.
»Du hältst sie verkehrt herum.«
21
Der Orlando International Airport war genauso scheußlich wie der von Seattle, nur dass die Luft hier deutlich wärmer und schwüler war, die blaugrauen Teppiche einen modrigen Geruch verströmten und man an jeder Ecke über Devotionalien der Vergnügungsparks stolperte. Über alldem lag das fröhliche Gelächter von Familien in
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