Seelenglanz
gewährte mir eher unabsichtlich den einen oder anderen Einblick in ihr tägliches Leben. Sie beklagte sich mit keiner Silbe, und sie haderte auch nicht mit dem Schicksal, das es nicht gerade gut mit ihr meinte. Stattdessen war sie wild entschlossen, aus eigener Kraft etwas aus ihrem Leben zu machen. Sie war unglaublich stark, stärker noch, als ich bisher angenommen hatte, und ich fragte mich, wie sie es aushielt, Tag für Tag diese Last auf ihren Schultern zu tragen. Ihre Antwort darauf war ein einziges Wort: Hoffnung. Die Hoffnung, dass alles besser werden würde, wenn sie nur hart genug arbeitete und sich anstrengte.
Ich wusste nicht, ob ich so viel Idealismus bewundern oder eher bedauern sollte, doch Jules schien diese Einstellung zu helfen.
Als wir beim Dessert angekommen waren und sie Milch und Zucker in ihrem Kaffee verrührte, beobachtete sie, wie ich meine Gabel in den Schokoladenkuchen auf meinem Teller bohrte.
»Warum bin ich hier?«, fragte sie plötzlich.
»Wegen Shandraziel.« Ein Stück Kuchen verschwand in meinem Mund.
»Verkauf mich nicht für blöd.«
Ich runzelte die Stirn.
»Was ich in den letzten Tagen gehört und gesehen habe, mag mich überfordern«, fuhr sie fort, »aber ich bin weder blind noch debil. Du hast einen Auftrag, der dich hierhergeführt hat, das hast du bereits gesagt. Ich bin dir doch nurim Weg. Warum also passt nicht Akashiel oder irgendein anderer Engel auf mich auf ?«
»Die sind gerade anderweitig beschäftigt«, brummte ich und spülte den Kuchen mit einem Schluck Kaffee hinunter.
»Womit?«
»Sie suchen nach demjenigen, der ihren Nephilim die Seelen raubt und dafür sorgt, dass sie sich gegen die Engel wenden.« Ich sah keinen Grund darin, die Vorgänge vor ihr zu verheimlichen. Immerhin war sie eine Nephilim, und so wie es aussah, stand ihre Seele auf Shandraziels Liste ziemlich weit oben. In diesem Augenblick wurde mir jedoch etwas anderes bewusst: Wenn Shandraziel Wind davon bekam, dass ich mich um Jules kümmerte, würde er annehmen, dass sie mir etwas bedeutete. Dann würde er erst recht versuchen sie zu bekommen. Großartig! Ich hatte Jules mitgenommen, um sie aus der Gefahrenzone zu bringen, und hatte sie damit nur noch mehr ins Fadenkreuz gerückt. Zumindest wenn Shandraziel herausfand, dass sie bei mir war.
Dann durfte er es eben nicht herausfinden.
Solange ich Jules bei mir hatte, durfte ich mich nicht versetzen. Auf diese Weise musste ich meine Signatur nicht öffnen und gab ihm keine Gelegenheit, mich – oder Jules – aufzuspüren. Das sollte genügen, um ihn uns vom Hals zu halten. Frische Klamotten würde ich dann eben, statt sie aus meinem Kleiderschrank zu Hause zu holen, vor Ort besorgen müssen.
»Das ist der Grund, warum ich dich mitgenommen habe«, fuhr ich fort. »Jemand hat es auf die Nephilim abgesehen und ich wollte dich aus der Schusslinie bringen.«
»Wer tut so etwas?«, fragte sie so leise, dass ich sie nur dank meines übernatürlich guten Gehörs verstehen konnte.
»Rate mal.«
»Shandraziel?«
Ich nickte.
An dieser Stelle hätte ich ihr erzählen können, dass hinter alldem vermutlich ein persönlicher Rachefeldzug Shandraziels gegen mich steckte, doch damit hätte ich sie nur unnötig beunruhigt.
»Warum tust du das, Kyriel?«
»Warum tue ich was?«
»Warum hilfst du mir?«
Weil es unglaublich ist, wenn du mich so erstaunt ansiehst, als könntest du etwas in mir sehen, was ich nicht erkenne. Und als könntest du es nicht glauben, einmal nicht allein mit deinen Problemen zu sein. »Pfadfinder-Gen«, sagte ich mit einem Schulterzucken.
»Du bist wirklich der seltsamste Kerl, dem ich je begegnet bin.«
»Hey, ich bin ein Engel! Das sollte mich doch auf jeden Fall von den Typen unterscheiden, mit denen du sonst rumhängst.«
Einen Moment lang musterte sie mich schweigend, als wäre ich ein Rätsel, das sie zu lösen gedachte. »Immer wenn ein Gespräch ernst wird, machst du entweder Witze oder reagierst schroff«, sagte sie dann. »Aber du bist nie wirklich du selbst. Nur manchmal habe ich das Gefühl, das zu sehen, was sich wirklich hinter deiner glatten Engelsfassade verbirgt.«
Da sah sie mehr als ich. Ich war es gewohnt, mich zu verstellen und den Leuten das Gesicht zu zeigen, das notwendig war, um mein Ziel zu erreichen. Hatte ich dabei etwa verlernt, ich selbst zu sein? Bisher hatte ich nicht den Eindruck gehabt, mich in Jules’ Gegenwart zu verstellen. Es hätte mich interessiert, was sie hinter meiner Fassade
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