Seelengrab (German Edition)
mit dem Staatsanwalt.
Hirschfeld lächelte, dann bückte er sich unter dem Absperrband hindurch und betrat den vom Erkennungsdienst gekennzeichneten Trampelpfad, von dem anzunehmen war, dass der Täter diesen Weg nicht genommen hatte. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen. Als er die dicht gewachsenen Sträucher erreicht hatte, kam ihm Renee entgegen.
„Nach Ihnen“, sagte Hirschfeld und machte eine ausladende Armbewegung.
„So, so. Ein Polizist der alten Schule“, erwiderte die Fotografin und drückte sich an ihm vorbei.
„Reiner Pragmatismus“, entgegnete er. „Sind Sie fertig?“
„So gut wie. Schröder hat in Rücksprache mit Staatsanwalt Beus Professor Stein angefordert.“
„Rechtsmedizin?“
„Gut kombiniert, Sherlock“, gab Renee zurück und setzte ein spöttisches Lächeln auf. „Stein hat gerade mit der äußeren Leichenschau begonnen, um eventuell erste Erkenntnisse über Todesursache und -zeitpunkt zu gewinnen. Er ist übrigens nicht nur irgendein Grünkittel, er leitet das Institut.“
„Sie vergaßen zu erwähnen, dass er in seiner Freizeit mit Vorliebe Rolltreppen aus allen möglichen Perspektiven malt. Er kennt gar kein anderes Motiv, soweit mir bekannt ist.“
„Woher …?“
„… ich das weiß? Während meines Studiums habe ich ein paar Vorlesungen bei ihm besucht. Er ist ohne Frage eine bemerkenswerte Persönlichkeit.“
„Okay, eins zu null für Sie, Hirschfeld.“
Sie setzte ihren Weg fort. Hirschfeld lächelte in sich hinein und zwängte sich durch die Sträucher. Nach wenigen Metern hatte er den Pavillon erreicht, in dessen Zentrum die Leiche lag. Zwei Erkennungsdienstler waren gerade damit beschäftigt, das Laub, das sie von der Leiche abgetragen hatten, auf einer weißen Plastikfolie auszubreiten, um es nach verdächtigen Spuren zu untersuchen. Sie arbeiteten stumm und schienen ein eingespieltes Team zu sein. Als Hirschfeld näher herantrat, setzte der Regen wieder ein, vor dem sich alle Einsatzkräfte vor Ort gefürchtet hatten. Fielen erst vereinzelt ein paar Tropfen auf das Plastikdach, schwoll der Regen binnen von Sekunden zu einem heftigen Schauer an, der mögliche Spuren außerhalb des Pavillons mit sich fortspülen würde. Doch daran ließ sich jetzt nichts mehr ändern.
Während Hirschfeld das Geräusch des stärker prasselnden Regens in sich aufnahm, vertiefte er sich für einen Moment in den Anblick der Toten. Ihm fiel sofort auf, dass sie keinerlei Spuren äußerer Gewalteinwirkung aufwies. Sie war, wie bereits vermutet, vollkommen nackt und lag ausgestreckt auf dem Rücken. Ihre Arme ruhten mit den Handflächen nach unten nah an ihrem Körper. Ihr Kopf war ein wenig nach links gekippt. Ihre Augen waren geschlossen, der Mund war halb geöffnet. Hirschfeld schätzte die junge Frau auf höchstens Anfang bis Mitte 20. Sie war schlank, hatte ebene Gesichtszüge und langes schwarzes Haar, das in der Mitte gescheitelt war und durch die Feuchtigkeit strähnig herunterhing. Sie war ungeschminkt und trug bis auf ein Paar goldener Ohrstecker und eine dünne Silberkette mit einem ovalen Medaillon keinerlei Schmuck. Hirschfelds Blick wanderte über die kleinen Brüste, die straff nach oben standen, und blieb auf ihrer unbehaarten Scham hängen. Sie war keine Schönheit im klassischen Sinne, strahlte jedoch eine Unnahbarkeit aus, die anziehend wirkte. Wäre sie ihm auf der Straße begegnet, hätte Hirschfeld sich zweifellos nach ihr umgedreht.
Der Kriminalhauptkommissar räusperte sich. Neben der Leiche hockte eine hagere Gestalt, die ihm den Rücken zukehrte und ihn bislang nicht bemerkt hatte. Trotz des Schutzanzuges hatte Hirschfeld den Rechtsmediziner an seiner gebeugten Haltung erkannt. Stein maß gute 1,95 Meter und hatte die Angewohnheit, sich seinen Mitmenschen gegenüber kleiner zu machen, als er war. Sein Kopf war nach vorne gezogen und in den Nacken gelegt. Sein oberer Rücken war fast rund und seine Schultern zeigten nach vorne. Über die Jahre hatte er so eine Fehlhaltung ausgeprägt, die kein Orthopäde würde je wieder richten können.
„Professor Stein, ich freue mich, endlich ein bekanntes Gesicht zu sehen“, begrüßte Hirschfeld den Mann.
Der Professor wandte sich langsam um, ohne aufzustehen.
„Hirschfeld? Sind Sie es wirklich?“, fragte er.
Obwohl Overall und Mundschutz nur ein kleines Oval seines Gesichtes freigaben, sah Hirschfeld, dass der Professor lächelte.
„Leibhaftig.“
„Sie hätte ich hier als Letztes
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