Seelengrab (German Edition)
erwartet“, erwiderte Stein. „Was führt Sie zu uns?“
Der Regen trommelte jetzt in gleichmäßigem Takt auf das Schutzdach.
„Das ist eine längere Geschichte, Professor. Fest steht, dass dies meine erste größere Todesermittlung in Bonn ist.“
„Wollen Sie damit ausdrücken, dass es sich hierbei nicht nur um einen beruflichen Abstecher in die ehemalige Bundeshauptstadt handelt?“
„So sieht es aus.“
„Ich dachte immer, nichts könnte Sie aus Berlin wegbewegen.“
Vor ein paar Jahren noch hätte Hirschfeld dieselbe Antwort gegeben. Er dachte an seinen halsstarrigen Vater, an seine verletzten Blicke und die Worte, die er seinem Sohn an den Kopf geworfen hatte. In diesem Moment nahm Hirschfeld sich vor, den alten Herrn so bald wie möglich wieder zu besuchen. Der Mord an der jungen Frau würde ihn allerdings in den nächsten Tagen daran hindern, seinen Entschluss in die Tat umzusetzen.
„Aber Sie werden Ihre Gründe haben“, bemerkte Stein, dem nicht entgangen war, dass Hirschfeld in Gedanken versunken gewesen war.
„Können Sie schon etwas zur Todesursache sagen?“, konzentrierte Hirschfeld sich wieder auf das Wesentliche und ging neben dem Professor in die Knie. „Die Leiche weist keine äußeren Verletzungen auf, soweit ich gesehen habe.“
„Das ist eine Frage, die sich nicht ohne Weiteres beantworten lässt. Bislang habe ich weder Stich- noch Schusswunden gefunden. Auch der Hals scheint unversehrt.“
„Also auch kein Erwürgen?“
„Das möchte ich nicht mit Bestimmtheit ausschließen.“
„Vielleicht wurde sie vergiftet.“
„Das wäre ein weitere Möglichkeit, der wir nachgehen werden. Der toxikologische Befund wird allerdings frühestens in zwei bis drei Wochen vorliegen.“
„Gibt es Abwehrverletzungen?“, fragte Hirschfeld weiter und deutete auf die Hände, über die einer der beiden Erkennungsdienstler gerade Papiertüten zog, damit mögliche Fremdspuren auf dem Weg in die Rechtsmedizin erhalten blieben.
„Auf den ersten Blick nicht. Allerdings habe ich an Hand- und Fußgelenken Fesselspuren entdeckt.“
„Und der Todeszeitpunkt?“
Die alles entscheidende Frage.
„Von der rektalen Messung der Temperatur habe ich abgesehen, da ich zu diesem Zeitpunkt nicht zweifelsfrei feststellen kann, ob das Opfer vergewaltigt wurde.“
„Verstehe. Ich nehme an, Sie haben stattdessen bereits die Temperatur der Leber gemessen“, entgegnete Hirschfeld und deutete auf den kaum sichtbaren Einstich unterhalb der oberen Rippen.
„Ja, gut beobachtet. Die Temperatur beträgt 3,5 Grad, die Außentemperatur liegt bei null.“
„Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?“
„Da wir nicht wissen, wie lange die Leiche bereits im Freien liegt“, holte Stein aus, „ist die Temperatur ein schlechter Ratgeber für die Bestimmung des physiologischen Todes. Bei Zimmertemperatur fällt die Körperwärme um etwa ein bis zwei Grad in der Stunde. Wenn wir von 37 Grad Celsius und normalen Bedingungen ausgehen, dürfte der Tod maximal vor etwa 16 bis 18 Stunden eingetreten sein. Die niedrigen Außentemperaturen beschleunigen die Abkühlung natürlich, sodass die Zeitspanne wesentlich kürzer sein könnte.“
Der Professor schwieg für einen Augenblick, dann hob er die Tote behutsam an, um sie ein wenig auf die Seite zu drehen, und fuhr fort:
„Sehen Sie hier: Ich konnte bisher zwei Arten von Livores feststellen.“
Hirschfeld beugte sich über die Leiche und entdeckte mehrere dunkelviolett gefärbte Flecke auf Arm, Bein und Hüfte.
„Die Tote muss längere Zeit auf der linken Körperseite gelegen haben“, folgerte Hirschfeld.
„Ja, wenn Sie genau hinsehen, können Sie darüber hinaus auf dem Rücken blass rosafarbene Flecke erkennen.“
„Demnach wurde die Tote umgelagert.“
„Vollkommen richtig. Da die Leichenflecke auf der linken Seite nicht mit dieser Bewegung des Körpers mitgewandert sind, ist davon auszugehen, dass das Opfer zum Zeitpunkt der Lageveränderung seit mindestens sechs bis acht Stunden tot war.“
„Die helleren Flecke sind also später entstanden?“
Stein nickte:
„Vielleicht vor etwa drei bis fünf Stunden. Hinzu kommt, dass der Rigor mortis noch nicht vollkommen ausgeprägt ist.“
Stein sprach von der Totenstarre, die zunächst in den kleinen Gesichts- und Nackenmuskeln einsetzt und schließlich in einer Bewegung vom Kopf bis zu den Füßen auf die größeren Muskeln übergreift.
„Das untermauert meine bisherige Annahme“, schloss der Professor,
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