Seelengrab (German Edition)
mir am Rücken geklebt. Alles hat nach getrocknetem Gras und altem Holz gerochen. Irgendwo haben ein paar Fliegen gesummt. Dann ist auf einmal das Scheunentor aufgegangen. Staub ist vom Boden aufgewirbelt, als die schweren Stiefel in die Scheune gestapft sind. Hab nicht erkennen können, wer in mein Versteck eingedrungen ist. Hab sofort den Kopf eingezogen und nur einen breiten schwarzen Rücken gesehen, der sich über den Hühnerstall gebeugt hat. Eine große Hand hat die Käfigtür geöffnet und ein Tier gepackt. Es war ein altes Huhn. Fett und mit zerrupften Federn. Es hat mit den Flügeln geschlagen und furchtbar gezappelt. Dann ist der Mann zu einem Holzblock gegangen. Das Huhn hat weiter mit den Füßen in der Luft gerudert und laut gegackert. Ein komischer Laut, den ich noch nie von einem Tier gehört hab. Als er das Huhn auf den Block gelegt hatte, hat es plötzlich geblitzt. Hab für einen Moment nichts mehr sehen können. Und dann ist das Huhn runtergerutscht. Alles war voller Blut. Es hat ganz wild gezuckt und ist davongelaufen. Tipp, tipp, tipp. Erst dann hab ich gesehen, dass es keinen Kopf mehr hatte. Hätte fast laut aufgeschrien, aber niemand durfte mich hier finden. Die anderen Hühner sind gegen die Käfigwände geflattert. Mein Herz hat ganz laut geklopft. Fast hätte ich den Halm zwischen meinen Zähnen verschluckt.
Ich scheuche das Bild mit einer Handbewegung weg und mach die Augen wieder zu. Versuche, an etwas anderes zu denken. Als ich fast wieder eingeschlafen bin, hör ich ein Geräusch. Erst ist es ganz leise, dann nähert es sich meinem Bett. Wie ein Scharren. Tipp, tipp, tipp.
27
Lutz Hirschfeld hatte in der vergangenen Nacht kaum Schlaf gefunden. Immer wieder hatte sich die Susanne Bach von dem Foto in ihrem Zimmer vor sein inneres Auge geschoben und seine Gedanken kreisen lassen. Eine innere Unruhe hatte ihn befallen. Hirschfeld kannte dieses Gefühl. Als Kriminalbeamter hatte er in den letzten Jahren viele Leichen zu Gesicht bekommen. Er bedauerte den Tod dieser Menschen und fast mehr noch den Verlust, den die Angehörigen dadurch erlitten. In seiner Laufbahn hatte Hirschfeld alle Sorten von Mördern erlebt, solche, die ihren Taten gleichgültig gegenüberstanden, und solche, die sie bereuten. Für ihn spielte das keine Rolle. Denn bei jeder Ermittlung hatte er nur ein Ziel: den Täter zu finden und seiner gerechten Strafe zuzuführen. Dieser Drang war wie ein Fieber, das erst nachließ, wenn er den Fall zu den Akten legen konnte. Um kurz nach fünf Uhr morgens hielt Hirschfeld es nicht länger im Bett aus. Bereits eine Dreiviertelstunde später saß er in seinem Büro. Auf dem Gang war er niemandem begegnet, denn die meisten seiner Kollegen trafen frühestens um halb sieben im Polizeipräsidium ein.
Hirschfeld kochte sich in der Teeküche einen Kaffee und fuhr seinen Rechner hoch. Er öffnete das EDV-Programm und versuchte, die Erkenntnisse, die sie aus der gestrigen Befragung gewonnen hatten, in einem Bericht zusammenzufassen. Hirschfeld starrte auf den flimmernden Monitor vor sich. Der Cursor blinkte ihn herausfordernd an. Er versuchte seine Gedanken zu ordnen. Doch nach wenigen Minuten machte sich ein stechender Schmerz im Nacken bemerkbar, der halbseitig zur Stirn ausstrahlte und hinter seinen Augen pochte. Hirschfeld musste sich zwingen, sich weiter auf den Bildschirm zu konzentrieren. Jetzt bereute er, dass er so früh ins Polizeipräsidium gefahren war. Als der Schmerz heftiger wurde, presste er die Augen zusammen und hoffte, dass die Kopfschmerzattacke schnell vorüberging.
„Alles in Ordnung mit dir?“, hörte er plötzlich Kirchhoff in unmittelbarer Nähe.
Hirschfeld hatte gar nicht mitbekommen, dass sein Partner das Büro betreten hatte. Er öffnete mühsam die Augen und sah verschwommen Kirchhoffs kantiges Gesicht vor sich.
„Ja, danke, geht schon.“
„Brauchst du eine Schmerztablette?“, fragte Kirchhoff und legte seinen Mantel ab.
„Vielleicht später, hilft meistens nichts.“
„Hattest wohl zu wenig Schlaf?“, vermutete Kirchhoff richtig.
„Ja. Und was machst du hier?“, entgegnete Hirschfeld mühsam und massierte sich die Schläfen. „Hast du kein Zuhause?“
„Dasselbe könnte ich dich fragen, Lutz.“
„Na, wer von uns beiden wohnt zurzeit im Hotel?“, lächelte Hirschfeld schwach.
„Warum wohnst du nicht bei deinen Eltern?“, wollte Kirchhoff wissen.
Seit dem Vorfall in der Rheinischen Landesklinik hatte Hirschfeld kein Wort mehr
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