Seelengrab (German Edition)
Leib erfahren. Warum hast du mir das angetan? Kann nicht glauben, dass du all die Jahre ungeschoren davongekommen bist. Doch du hast sie alle getäuscht. Mit deinem Engelsgesicht. Hast sie eingewickelt. Ihnen Lügen ins Ohr geflüstert. Dich herausgeredet, wenn sie der Wahrheit zu nahe kamen.
Ich hatte viel Zeit, über dich nachzudenken. Vielleicht bist du gar nicht böse. Vielleicht warst du wie ich. Vielleicht wohnt nur der Teufel in dir. Du solltest mir dankbar sein, denn ich werde dich von allem Schlechten befreien. Erst dann werden wir Frieden finden.
62
Der Wasserstrahl traf auf seinen verspannten Nacken. Während warmer Dampf nach oben stieg, lehnte Hirschfeld sich mit dem linken Unterarm gegen die Kacheln und senkte den Kopf. Durch seine nassen Haare hindurch verfolgte er, wie das Wasser seine Füße umspülte und gurgelnd im Abfluss verschwand.
Hirschfeld schloss die Augen und konzentrierte sich auf das Geräusch der Tropfen, die auf den Boden der Duschkabine prasselten. Er hatte das dringende Bedürfnis, die Mischung aus Frust, Sorge und Ekel abzuwaschen, die sich seit Tagen in ihm anstaute. Sie kamen einfach nicht weiter. Hirschfeld machte sich Vorwürfe, dass der Fotograf ihnen entkommen war. Der einzige Verdächtige in diesen Fällen. Obwohl Jörg Winkler seit dem Nachmittag zur bundesweiten Fahndung ausgeschrieben worden war und seine Wohnung sowie das Fotostudio rund um die Uhr observiert wurden, fehlte bisher jede Spur von ihm. Es war eine Frage der Zeit, bis er gefasst wurde. Zeit, die sie nicht hatten. Denn wenn Winkler die beiden jungen Frauen getötet hatte, war nicht auszuschließen, dass er sein nächstes Opfer bereits im Visier hatte. Jede Stunde, die verstrich, konnte das Todesurteil für eine weitere unschuldige Frau bedeuten.
Hirschfeld tastete mit geschlossenen Augen nach der Flüssigseife. Er schraubte den Verschluss der Plastikflasche auf und ließ die Seife, die, schenkte man dem Etikett Glauben, auch für die Haarwäsche geeignet war, in die hohle Hand laufen. Er würde nicht umhinkommen, endlich auf Wohnungssuche zu gehen, wenn er sich nicht länger mit dem Hauch von Hotelseife umgeben wollte.
Hirschfeld massierte das Shampoo in die Kopfhaut ein, bis sich genügend Schaum gebildet hatte. Beim Auswaschen dachte er an die Dateien, die Kirchhoff auf den Memorystick kopiert hatte. In einem Punkt hatte Winkler die Wahrheit gesagt: Am Tag von Susanne Bachs Beerdigung hatte er tatsächlich verschiedene Grabanlagen auf dem Nordfriedhof fotografiert. Die Friedhofsgärtnerei hatte den Auftrag auf telefonische Nachfrage bestätigt. Es würde schwierig sein, Winkler nachzuweisen, dass der Termin nicht zufällig gewählt war.
Die Fotos von minderjährigen Mädchen, die Winkler in eindeutigen Posen abgelichtet hatte, hatte er dagegen verschwiegen. Hirschfeld spürte noch immer den bitteren Geschmack im Mund, als er die ersten Bilder gesehen hatte. Die KTU war bei der Identifizierung der Räumlichkeiten, in denen sich der Fotograf mit den Mädchen getroffen hatte, noch nicht vorangekommen. Fest stand, dass Winkler für die Aufnahmen nicht sein eigenes Fotostudio benutzt hatte. Die Möbelstücke, die im Hintergrund zu sehen waren, ließen vermuten, dass er sich in diversen Hotels eingemietet hatte.
„Perverses Schwein!“
Hirschfeld schlug mit der Faust gegen die Wand. Seine Fingerknöchel schmerzten empfindlich, doch er kümmerte sich nicht darum. Wut würde sie nicht weiterbringen. Hirschfeld konnte nur hoffen, dass Winkler einen Fehler beging, nachdem sie ihn in die Enge getrieben hatten. Allerdings war ihm auch bewusst, dass das genaue Gegenteil eintreten konnte: Winkler hatte nichts mehr zu verlieren. Das machte ihn umso unberechenbarer.
Das Klingeln des Telefons riss Hirschfeld aus seinen Gedanken. Er fluchte, aber vielleicht war das endlich … Er duschte sich hastig ab, dann drehte er den Wasserhahn zu und sprang aus der Dusche. Auf dem Weg zum Bett schnappte Hirschfeld sich ein Handtuch, das er sich um die Hüften band.
„Ja?“
„Dass ich dich mal ans Telefon bekomme, grenzt an ein Wunder.“
„Jo?“, rief Hirschfeld.
„Ja, Bruderherz. Hast du jemand anderes erwartet? Sollte ich da etwas wissen?“
„Wo zur Hölle hast du die letzten Tage gesteckt?“
„Wow, du bist ja gut gelaunt.“
„Verdammt, ich hab mir Sorgen gemacht!“
„Wieso?“, fragte Johanna jetzt ernst. „Weil ich mich nicht gemeldet habe? Ich bin am Sonntag spontan nach Berlin gefahren, alles ein
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