Seelenjäger: Die Jagd beginnt (German Edition)
lassen.
Nach einigen Minuten wurde mein Atem ruhiger und mein Herzschlag verlangsamte sich wieder auf ein akzeptables Tempo. Und in meinem Kopf lichtete sich allmählich das Chaos. Die einzigen Gedanken galten Alec. Ich sah sein Gesicht vor mir, sah seine roten Augen. Ich spürte seine Kälte und Wärme zugleich. Ich hörte sein Lachen, sah sein Lächeln. Hörte seine Stimme in meinem Kopf: Jackie, verschwinde von hier!
Moment mal! Das war keine Einbildung, ich hörte tatsächlich seine Stimme. Und er klang nicht nur besorgt, sondern vielmehr nachdrücklich. Er wollte, dass ich verschwand. Aber wieso? Plötzlich vernahm ich laute Stimmen.
„Raus hier, hab ich gesagt!“ Es war der Wirt, der gesprochen hatte.
„Lass mich zufrieden!“, brüllte eine andere, mir unbekannte Stimme, „Wo ist sie?“
Jackie! Hau ab, verdammt noch mal! , rief Alecs Stimme erneut in meinem Kopf.
Und diesmal zögerte ich nicht. Dort unten in der Herberge gab es Probleme und wer auch immer der Störenfried war, er wollte mich! Ich sprang aus dem Bett und lief zum Fenster.
Das Zimmer befand sich im ersten Stock, also war es nicht allzu hoch, jedoch hoch genug, um mir das altbekannte Schwindelgefühl zu bereiten. Ich nahm all meinen Mut zusammen, öffnete das Fenster und kletterte hinaus. Jetzt würde Alec mir höchstwahrscheinlich nicht helfen können, wenn ich abrutschte. Ganz vorsichtig tastete ich mich mit den Füßen an einem aus der Wand stehenden Balken entlang. Mit den Händen suchte ich Halt am Fensterrahmen.
Nur nicht nach unten sehen, sagte ich mir. Doch ich konnte nicht anders und blickte zum Boden. Ein paar Leute hatten sich vor dem Eingang der Herberge versammelt, doch viele flüchteten in ihre Häuser. Also lief es da unten nicht gerade gut.
Allerdings entdeckte ich auch einen Heuhaufen auf einem Karren, der neben der Herberge stand. Um auf dem weichen Heu zu landen, musste ich jedoch noch ein paar Schritte weiter. Es war nicht weit, doch es gab fast keine Möglichkeit, sich festzuhalten.
Ein Schmerzensschrei, der durch das Dorf dröhnte, nahm mir die Entscheidung ab. Vorsichtig hangelte ich mich an der Kante eines Brettes entlang. Mit den Füßen suchte ich Halt auf den herausstehenden Balkenenden. So schob ich mich Stück für Stück an der Hauswand entlang. Als ich mich direkt über dem Heuwagen befand, schloss ich die Augen. Dann ließ ich los und fiel in die Tiefe. Nur Bruchteile einer Sekunde später landete ich auf dem weichen Heu. Erleichtert richtete ich mich auf. Es war nichts gebrochen und ich war wieder auf festem Untergrund. Ich stand auf und lief weiter. Ich rannte durch die engen Gassen und schmutzigen Straßen. Ein paar Mal begegnete ich anderen Leuten, doch sie wichen mir aus oder versteckten sich in der nächsten Gasse. Normalerweise hätte ich mich gewundert, aber Alecs Anweisung, zu verschwinden, war mehr als antreibend. Alec! Sofort blieb ich stehen. Er war noch immer in der Herberge und möglicherweise in Schwierigkeiten. Ich wollte umkehren und ihm helfen, doch ich nahm an, dass ich ihm eher behilflich sein würde, wenn ich meine eigene Haut rettete. Also zwang ich mich dazu, weiterzulaufen. Immer weiter und weiter. Bis ich das Dorf hinter mir gelassen hatte und in den Wald rannte.
Tränen liefen mir über die Wangen. Aus mehreren Gründen. Erstens, weil ich jedes Mal, wenn ich jemanden gern hatte, ihn zurücklassen musste. Zweitens, weil ich immer auf der Flucht war und langsam, aber sicher die Nase voll hatte. Ich wollte nicht mehr weglaufen. Und drittens, weil sich mein Herz zusammenkrampfte, wenn ich mir vorstellte, dass Alec sterben könnte. Doch ich lief weiter. Ich wich Bäumen aus, stolperte über Wurzeln und abgebrochene Äste. Immer wieder fiel ich zu Boden und landete in den schlammigen Blättern, die von den Bäumen gefallen waren. Jedes Mal wurde es zu einer größeren Überwindung, wieder aufzustehen und weiterzurennen. Und wenn ich endlich auf den Beinen war und weiter durch das Unterholz stolperte, blieb ich an tief hängenden Ästen oder Dornenbüschen hängen und riss mir Kleidung und Haut ein.
Völlig erschöpft und ermüdet von dem ständigen Aufstehen und Hinfallen und betäubt von den Schmerzen innerlich und äußerlich, sank ich schließlich in mich zusammen und blieb auf dem Waldboden sitzen. Die Tränen brachen nur so aus mir heraus und ich konnte sie nicht mehr unterdrücken. All die Trauer, die ich versucht hatte zu verdrängen, kam in mir hoch und übernahm die
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