Seelenkälte: Ein Fall für Suna Lürssen (German Edition)
er sie ganz freundlich und diplomatisch darauf hin. Seine Frau war da etwas aufbrausender. Sie duldete weder Unpünktlichkeit noch Schlamperei. Wenn sie entdeckte, dass Dilek vergessen hatte, unter einem der Sessel staubzusaugen, rief sie sie zu sich heran. Mit erhobenem Zeigefinger wurde Dilek getadelt, wobei sie sich wie ein kleines Schulmädchen vorkam. Hinterher steckte ihr Herr Kannhausen dann meistens mit einem verschwörerischen Augenzwinkern einen Fünf-Euro-Schein zu, als kleine Wiedergutmachung. Dabei legte er den Zeigefinger an die Lippen, als Zeichen, dass Dilek seiner Frau nichts davon sagen sollte. Das war ihr kleines Geheimnis.
Einen besonderen Vertrauensbeweis hatten die Kannhausens ihr vor sechs Wochen erbracht, als sie ihr einen eigenen Schlüssel für das Haus ausgehändigt hatten. So konnte sie auch zum Saubermachen kommen, wenn die Eigentümer im Urlaub oder einfach nur zum Einkaufen unterwegs waren.
Meistens waren die beiden allerdings zuhause. Herr Kannhausen war Richter gewesen, befand sich inzwischen aber seit ein paar Jahren im Ruhestand. Seine Frau hatte sich um den Haushalt und die Kinder gekümmert, die jetzt aber schon lange erwachsen waren und ihre eigenen Wohnungen hatten.
Beide verbrachten viel Zeit mit ihren Hobbies. Herr Kannhausen hielt sich meistens in dem großen Raum unter dem Dach auf, hörte über Kopfhörer klassische Musik und malte, während seine Frau unten im Büro saß und sich um den Verein kümmerte, bei dem sie ehrenamtlich arbeitete. Soweit Dilek wusste, ging es darum, Leuten, die im Gefängnis gesessen hatten, Wohnungen und Jobs zu beschaffen.
Manchmal wunderte sich Dilek darüber, dass die Kannhausens sie eingestellt hatten, anstatt den Job irgendeinem ehemaligen Gefängnisinsassen zu geben, der von Frau Kannhausens Verein betreut wurde. Aber so weit, dass man sich die Kriminellen ins eigene Haus holte, ging die Hilfsbereitschaft wohl dann doch nicht. Dilek konnte da nur zustimmen. Sie selbst wäre niemals auf die Idee gekommen, so einen Kerl in ihre Wohnung zu lassen.
Während sie auf das Haus der Kannhausens zueilte, suchte sie in ihrer großen Umhängetasche nach ihrem Schlüssel. Wie immer war er ganz nach unten gerutscht. Als sie ihn endlich fand und ins Schloss der schweren Holztür stecken wollte, hielt sie plötzlich erstaunt inne. Die Tür war zwar angelehnt, aber nicht vollständig zugezogen worden, sodass sie nicht eingerastet war.
Ein ungutes Gefühl überkam sie. Was passierte, wenn man in ein nicht abgeschlossenes Haus hineinging, hatte sie oft genug in Filmen gesehen. Einen Moment überlegte sie, den Notruf zu wählen, aber was sollte sie der Polizei wohl erzählen? Hallo, ich brauche Hilfe, jemand hat seine Tür nicht richtig zugemacht? Na, damit würde sie die Lacher garantiert auf ihrer Seite haben, die spöttischen, wohlgemerkt.
»Jetzt hör auf, dich hier verrückt zu machen. Es ist bestimmt alles ganz harmlos«, murmelte sie, um sich selbst Mut zu machen.
Wahrscheinlich hatte Frau Kannhausen einfach vergessen, die Tür richtig hinter sich zuzuziehen, als sie den Müll rausgebracht hatte. Die alte Dame wurde halt so langsam doch ein bisschen tüddelig.
Dilek ignorierte eine innere Stimme, die ihr zuschrie, dass das Rausbringen des Mülls zu ihren Aufgaben gehörte. Vorsichtig drückte sie die Tür auf. Fast erwartete sie ein Quietschen, wie man es im Film auch immer hörte, doch die Tür schwang leicht und geräuschlos auf.
»Frau Kannhausen, Herr Kannhausen, sind Sie da?«, rief sie mit zitternder Stimme.
Nichts rührte sich.
»Hallo, ist jemand hier?«
Stille. Das Ehepaar schien nicht zuhause zu sein.
Vorsichtig trat Dilek in den kleinen Flur. Obwohl sie einen eigenen Schlüssel für das Haus besaß und mit den Eigentümern verabredet hatte, heute herzukommen, kam sie sich wie ein Eindringling vor.
Sie drehte sich vorsichtshalber zur Straße um. Gelegentlich stellten die Kannhausens ihr Auto in die Garage, aber meistens parkten sie einfach vorn an der Straße. Erleichtert stellte sie fest, dass das Auto nicht da war. Also waren die beiden doch noch unterwegs, wahrscheinlich zum Einkaufen. Es würde wohl nicht lange dauern, bis sie zurückkamen.
Beruhigt atmete Dilek einmal tief durch und betrat dann mit wesentlich sichereren Schritten als vorher die Küche, die von dem kleinen Flur abging. Sie holte die Putzsachen aus dem Wandschrank, streifte die Gummihandschuhe über und füllte einen Eimer mit heißem Wasser. Wie immer
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