Seelenkälte: Ein Fall für Suna Lürssen (German Edition)
mit dem Auto in Hamburg?«, fragte sie dann.
»Ja, aber das ist auch verschwunden. Ich habe unter einem Vorwand in der Kanzlei angerufen und die Sekretärin gebeten, dass sie in der Tiefgarage nachsehen soll, ob der Wagen dort noch steht, doch er war weg.«
»Warum haben Sie Ihren Mann denn nicht als vermisst gemeldet?«, wollte Suna wissen. »Ich meine, nicht direkt nach seinem Verschwinden. Aber als er nach ein paar Tagen nicht wiedergekommen ist, wäre es doch naheliegend, zur Polizei zu gehen.«
»Ich weiß«. Lucia senkte den Kopf und begann, auf ihrer Unterlippe herumzunagen. »Ich dachte, es ist am besten, wenn niemand etwas bemerkt«, gab sie beschämt zu. »Rüdiger und Paul haben gerade einen sehr wichtigen Vertrag ausgehandelt. Ich dachte, wenn jemand bemerkt, dass mein Mann nicht mehr da ist, löst die andere Firma ihn vielleicht wieder auf.«
»Und da haben Sie die Geschichte mit der dringenden Reise nach Argentinien erfunden«, folgerte Suna. »Und die E-Mails an Ihren Mann, haben Sie die beantwortet?«
Die junge Frau nickte. »Ich komme ja hier an seinen Computer. Zuerst habe ich nur nachsehen wollen, ob er vielleicht etwas von seinem Handy aus geschickt hat. Eine Nachricht, wo er ist oder wann er zurückkommt. Und ich dachte, dass die Entführer sich auf diesem Weg gemeldet haben könnten. Aber als da auch nichts war, habe ich beschlossen, einfach so zu tun, als ob er verreist ist. Ich dachte, wenn es so aussieht, als wenn alles normal ist, läuft es vielleicht einfach so weiter, bis er zurückkommt.«
»Frau Tenstaage«, Suna lehnte sich vor und legte ihre Hand auf den Unterarm der Frau, während sie ihr direkt in die Augen sah. »Ich weiß, dass Sie sich Sorgen machen, große Sorgen. Das ist nur zu verständlich. Aber Sie müssen zur Polizei gehen, und zwar so schnell wie möglich. Geben Sie eine Vermisstenanzeige auf, am besten noch heute. Ihr Mann ist jetzt seit vier Wochen verschwunden. Sollte ihm etwas zugestoßen sein, bekommen Sie sonst große Probleme.«
»Aber ich ...«, Lucia schlug beide Hände vor das Gesicht und begann zu schluchzen. »Ich ...«
»Ich weiß, dass Sie Angst haben«, versuchte Suna ihr zu helfen. »Das wird jeder verstehen, auch die Polizei.«
Erst nach ein paar Minuten blickte Lucia auf. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet, ihre Miene wirkte verzweifelt.
»Nein, Sie verstehen nicht«, schluchzte sie. »Ich habe keine Angst davor, dass mein Mann nicht zurückkommt. Ich habe Angst, dass er zurückkommt.«
*
Dilek Cengiz warf einen entsetzten Blick auf das Display ihres Handys.
»Oh nein«, schnaufte sie. »Ich komme schon wieder zu spät. Diesmal bekomme ich bestimmt richtig Ärger. Dieser verdammte Bus!«
Seit einem Dreivierteljahr war sie jetzt als Haushaltshilfe bei den Kannhausens angestellt. Zwei Mal pro Woche fuhr sie mit dem Bus raus nach Travemünde, wo das ältere Ehepaar in einem netten Einfamilienhaus wohnte. Es war der erste richtige Job, den sie ergattert hatte, mit festen Arbeitszeiten, einer Unfallversicherung und Anspruch auf Urlaub. Sogar wenn sie krank wurde, bekam sie ihr Geld ausgezahlt, das war bei keinem ihrer bisherigen Putzjobs so gewesen. Sie dankte es ihren Arbeitgebern, indem sie noch kein einziges Mal gefehlt hatte. Doch leider hatte immer wieder der Bus, der sie an ihren Arbeitsplatz brachte, Verspätung. Einmal, im Januar, war sie fast eine Stunde zu spät gekommen, weil zwei Busse hintereinander ausgefallen waren. Frau Kannhausen hatte damals mächtig getobt, deshalb bemühte sich Dilek seitdem besonders um Pünktlichkeit.
Sie brauchte den Job unbedingt. In der Schule war sie nie besonders gut gewesen. Jungs, Klamotten und Musik hatten sie interessiert, nicht Englisch und Mathe. Dementsprechend miserabel war ihr Abschluss gewesen, als sie vor vier Jahren die Hauptschule verlassen hatte.
Doch inzwischen hatte sie sich verändert. Sie wollte etwas aus ihrem Leben machen, beruflich weiterkommen. Ihre Eltern verstanden das nicht, doch sie wollte selbst für sich sorgen können, ohne auf die Großzügigkeit eines Ehemanns angewiesen zu sein. Deshalb machte sie gerade den Realschulabschluss nach. Dass sie auch währenddessen ihr eigenes Geld verdiente, war für sie eine Frage der Ehre.
Zum Glück war ihre Arbeit nicht nur ein lästiges Übel. Ihr machte sie sogar Spaß, meistens jedenfalls.
Sie mochte die Kannhausens eigentlich ganz gern, vor allem der Mann war immer unheimlich nett zu ihr. Wenn sie mal etwas falsch machte, wies
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