Seelenkälte: Ein Fall für Suna Lürssen (German Edition)
wollte sie mit dem Bad im Erdgeschoss beginnen. Das war grundsätzlich mit Abstand der schlimmste Raum im Haus. Herr Kannhausen war zwar komplett kahlköpfig, aber er hatte eine Körperbehaarung wie ein Biber, und dementsprechend viele Haare fanden sich immer in der Dusche, im Waschbecken und auf dem Boden.
Dilek steckte sich die Ohrhörer ihres MP3-Players in die Ohren und schaltete die Musik ein. Mit einem guten Rhythmus ging die Arbeit viel leichter. Da niemand sie hören konnte, sang sie voller Inbrunst mit Lady Gaga mit, während sie wieder in den Flur und weiter in Richtung Bad lief.
Doch plötzlich stutzte sie. Gerade war sie an der einen Spaltbreit offenstehenden Tür zu Frau Kannhausens Arbeitszimmer vorbeigekommen, und irgendetwas stimmte dort nicht. Sie meinte, einen Schatten gesehen zu haben, irgendetwas, das dort mit Sicherheit nicht hingehörte.
Sofort war die Angst wieder da.
Dilek schluckte einmal schwer, dann trat sie zur Tür des Arbeitszimmers und begann vorsichtig, sie aufzudrücken.
»Hallo? Frau Kannhausen, sind Sie da?«, fragte sie ängstlich. Wieder bekam sie keine Antwort, aber sie hatte auch nicht damit gerechnet.
Sie nahm allen Mut zusammen und stieß die Tür auf.
Der Anblick, der sich ihr bot, war ein Schock. Die Kannhausens saßen nebeneinander, Frau Kannhausen auf ihrem Schreibtischstuhl, ihr Mann auf dem Besucherstuhl, der sonst immer in der Zimmerecke stand. Beide waren an ihren Stuhl gefesselt, sogar um ihre Hälse lag ein dicker Strick. Beide hatten den Kopf nach vorn gesenkt, sodass man ihre Gesichter nicht sehen konnte, und beide hatten ein blutiges Loch in der Brust.
Dilek öffnete den Mund. Sie wollte schreien, doch es kam nur ein heiseres Röcheln heraus. Gleichzeitig schien sie ihre Hände nicht mehr unter Kontrolle zu haben. Der schwere Wischeimer rutschte ihr aus der Hand, und das heiße Seifenwasser ergoss sich über das Eichenholzparkett. Doch sie merkte gar nicht, dass ihre Füße nass wurden.
»Oh mein Gott! Nein!« Sie schlug beide Hände vor den Mund, unfähig, ihren Blick von der schrecklichen Szene zu lösen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Oh mein Gott«, krächzte sie noch einmal, dann gelang es ihr endlich, aus dem Haus zu rennen. Sie schaffte es bis fast an die Straße, ehe ihr Magen rebellierte und sie sich übergeben musste.
*
Noch im Vorgarten der Tenstaages holte Suna ihr Telefon aus ihrer Tasche und wählte Rebeccas Handynummer.
Unter Tränen hatte Lucia Tenstaage ihr geschildert, wie sie unter ihrem Mann gelitten hatte. Seinetwegen hatte sie ihre Familie in Argentinien verlassen. Sie hatte ihr gesamtes Leben in Buenos Aires aufgegeben und war mit ihm nach Deutschland gegangen, nachdem sie sich in seinem Südamerika-Urlaub kennengelernt hatten. Doch schon bald nach der Hochzeit hatte er sich verändert. Dass er ihr immer öfter mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen hatte, war für sie nicht einmal das Schlimmste gewesen. Viel mehr hatte sie unter der psychischen Gewalt gelitten, die er ausgeübt hatte. Er hatte sie unter Druck gesetzt, dass er sie jederzeit nach Argentinien zurückschicken konnte, wenn er wollte. Ein paar Mal hatte er sogar gedroht, sie einfach umzubringen und irgendwo zu verscharren. Niemand würde nach ihr suchen, wenn er erzählte, sie wäre wieder nach Südamerika zurückgegangen, hatte er mit einem grausamen Lächeln erklärt. Also hatte sie alles getan, was er von ihr verlangt hatte. Und so fertig, wie sie gewesen war, wollte Suna sich lieber gar nicht vorstellen, was das alles gewesen war.
Bevor sie gegangen war, hatte sie sich von Lucia versprechen lassen, dass sie möglichst bald zur Polizei gehen würde, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben. Trotzdem machte sie sich Sorgen um die junge Frau.
»Moin, Rebecca, hier ist Suna«, sagte sie, nachdem sich ihre ehemalige Schwägerin gemeldet hatte. »Kannst du mir noch mal ein Gefallen tun und nachsehen, ob ihr etwas über einen gewissen Rüdiger Tenstaage habt? Könnte sein, dass er schon mal wegen häuslicher Gewalt oder etwas Ähnlichem aufgefallen ist.«
Rebecca zögerte kurz. »Ja schon, ich höre mich mal um, aber es kann eine Weile dauern. Bei uns ist momentan absoluter Ausnahmezustand.«
»Geht es immer noch um den Fall Baudelhoff? Seid ihr da weitergekommen?«
»Noch nicht wirklich. Die Polizei durchleuchtet gerade Pavel Svoboda. Es hat sich herausgestellt, dass er tatsächlich schon mal mit der Baudelhoff zu tun hatte, wegen irgendeiner
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