Seelenkälte: Ein Fall für Suna Lürssen (German Edition)
schuldig war, ihn überhaupt bei der Polizei als vermisst zu melden. Das Ergebnis war eindeutig: Sie war ihm gar nichts schuldig. Er hatte sie behandelt wie den letzten Dreck, ohne jede Spur von Respekt, von Liebe ganz zu schweigen.
Trotzdem hatte sie sich vorgenommen, zur Polizei zu gehen, nicht seinetwegen, sondern ganz allein ihretwegen. Sie war es sich selbst schuldig, endlich Gewissheit zu bekommen. Seitdem Rüdiger verschwunden war, hatte sie einfach nur von einem Tag zum anderen gelebt, ständig in der Hoffnung, er würde für immer wegbleiben. Aber so konnte es auf Dauer nicht weitergehen.
Eigentlich war es ihr egal, was mit ihm passiert war. Ihretwegen konnte er ruhig in der Weltgeschichte herumreisen oder zu einer anderen Frau ziehen oder was immer er tun wollte. Nur sollte er sie damit in Ruhe lassen. Und wäre ihm tatsächlich etwas zugestoßen, wäre das natürlich ein Schock für sie, doch ihre Trauer würde sich in ziemlich überschaubaren Grenzen halten.
Einen Augenblick lang erlaubte sie sich darüber zu sinnieren, was er wohl getan hätte, wäre sie eines Tages plötzlich und ohne eine Spur zu hinterlassen verschwunden. Die Antwort lag klar auf der Hand: gar nichts. Er hätte sie nicht gesucht oder eine Vermisstenanzeige erstattet. Auch Sorgen hätte er sich wohl keine gemacht.
Sie lachte kurz auf vor Bitterkeit. Wahrscheinlich, dachte sie, hätte er sogar seine Freiheit genutzt und die Nacht mit einer anderen Frau verbracht. Sie wusste, dass er schon einige Affären gehabt hatte. Vermutlich war er niemals treu gewesen. Am Anfang hatte es sie verrückt gemacht, wenn sie mitbekam, dass er sich mit einer anderen Frau traf. Sie war sich minderwertig vorgekommen, irgendwie beschmutzt. Doch inzwischen war ihr klar geworden, dass all das zu seiner Persönlichkeit gehörte. Und sie war froh gewesen über jede Nacht, die er nicht in ihrem Bett verbracht hatte.
»Alles in Ordnung mit Ihnen, können wir Ihnen helfen?«, ertönte plötzlich eine tiefe Stimme hinter ihr und riss sie abrupt aus ihren Gedanken.
Zwei Polizisten in Uniform waren auf dem Weg von ihrem Streifenwagen an ihr vorbeigekommen. Der Ältere der beiden lächelte sie freundlich an.
»Alles – alles okay«, stammelte Lucia. Sie bemühte sich, ebenfalls zu lächeln. Es gelang ihr nicht ganz. »Ich warte nur auf jemanden.«
»Gut.« Der Polizist blickte sie an, wobei sie sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, dass er genau wusste, welcher Kampf in ihrem Inneren tobte. Dann deutete er auf das Gebäude, in dem sich die Wache befand. »Sollten Sie doch etwas brauchen, kommen Sie einfach rein.«
Lucia nickte. »Ja. Danke.«
Sie wartete, bis die beiden Uniformierten im Gebäude verschwunden waren, dann atmete sie ein paar Mal tief durch und nahm allen Mut zusammen. Obwohl sie sich am liebsten auf der Stelle umgedreht hätte und geflüchtet wäre, zwang sie sich, das Polizeirevier zu betreten.
Innen war es relativ ruhig. Offenbar waren die meisten der Beamten, die dort arbeiteten, unterwegs. Nur zwei saßen an einem Schreibtisch. Einer tippte auf seiner Tastatur herum, der andere telefonierte. Vorn war eine Art Tresen, der den Eingangsbereich vom Rest des Raums trennte.
Unsicher blieb Lucia davor stehen. Sie hatte keine Ahnung, was sie jetzt tun sollte. Keiner der beiden Polizisten schien sie zu bemerken. Sollte sie rufen? Oder besser stehen bleiben und warten, bis einer auf sie aufmerksam wurde?
Die Entscheidung wurde ihr abgenommen, als einer der Polizisten, denen sie draußen vor der Tür begegnet war, aus einem der hinteren Räume trat und auf sie zukam. Es war der jüngere der beiden, nicht derjenige, der sie angesprochen hatte. Trotzdem lächelte er sie genauso freundlich an, wie sein Kollege das getan hatte. Das Namensschild an seinem Hemd wies ihn schlicht als Meyer aus.
»Moin, kann ich Ihnen helfen?«, fragte er.
Lucia spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Noch war Zeit, einfach zu gehen. Wenn sie als Vorwand nur nach dem Weg zu irgendeiner Adresse oder sogar nur nach der Uhrzeit fragte, konnte alles so bleiben, wie es in den letzten Wochen gelaufen war.
Für einen winzigen Sekundenbruchteil war sie in Versuchung, genau das zu tun, doch dann siegte die Vernunft.
»Ich – ich möchte meinen Mann melden – als vermisst, meine ich«, begann Sie stockend.
Der Polizist lehnte sich etwas nach vorn und stützte sich mit beiden Händen am Tresen ab. Seine Miene wirkte immer noch freundlich, aber deutlich ernster als
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