Seelenkuss / Roman
und begann, kleine verärgerte Quengellaute von sich zu geben. Holly beruhigte sie, während alle anderen sich um sie scharten.
»Wen willst du ausknipsen?«, fragte Ashe. »Und wieso?«
»Captain Obergrübler, wen sonst?«, hickste Holly.
»Reynard?«
Sanft und liebevoll legte Alessandro einen Arm um sie. »Hey, ist ja gut – beruhige dich!« Dann umfing er Ashe mit seinem anderen Arm.
Diese verschränkte die Arme vor ihrem Körper, weil sie heftiger fröstelte, als es die nächtliche Kälte verursacht haben konnte. Ihr Blutzucker war im Keller. Sie hätte etwas essen müssen, aber sie konnte nicht.
»Reynard glaubt, dass er weiß, wo Eden ist«, sagte Holly unglücklich. »Er ist losgezogen in die Burg, um sie zurückzuholen.«
»Ist sie dort?«, fragte Ashe verwirrt. »Denkst du, dass er recht hat?«
»Er hat was von Dunkelfeen gesagt, die mit Belenos zusammenarbeiten.«
»Ach, Reynard!«, schluchzte Ashe, deren Gesicht vor Angst gefror. »Er stirbt, wenn er in die Burg geht! Warum macht er das?« Natürlich kannte sie den Grund: wegen Eden. Weil Reynard war, wer er war. Dankbarkeit und Zorn prallten aufeinander.
Ich will keinen von ihnen verlieren!
»Er meinte, es wäre keine Zeit mehr. Anscheinend hatte er Angst davor, was der Feenprinz tun könnte.«
»Dieser Mist …«, begann Alessandro und wechselte, während er fluchte, in eine Sprache, die Ashe nicht kannte.
Sie schlotterte vor Verzweiflung, und ihr Bauch war so verkrampft, dass es weh tat. »Göttin! Ich muss dahin. Und ich bringe den um, der Eden hat, egal, wer das ist! Ich muss ihn rausholen!«
Alessandro Caravellis roter T-Bird parkte an der Straße. Ashe schoss quer über den Rasen auf den Wagen zu. Alessandro überholte sie in Sekunden.
Sie sprangen hinein und fuhren mit quietschenden Reifen los.
Sowie er in der Burg war, folgte Reynard dem Kristall. Seine Stiefelabsätze hallten auf dem Steinboden, so dass ihr Echo sich bis in die Tiefen der dunklen Korridore übertrug.
Bisher fühlte er sich gut genug, um mit seiner Suche fortzufahren – was nicht viel besagte. Wie so viele andere aus seiner Zeit war auch er in einer wollenen Uniform – angemessen für Englands Nebel und Regen – durch die sengende Sonne Indiens gewandert. Er war es gewohnt, sich Unbequemlichkeiten auszusetzen.
Dennoch konnte er fühlen, dass seine Urne sich mehr als Meilen entfernt in einer anderen Dimension befand. Stark, wie er war, kannte auch seine Kraft Grenzen. Sie schwand wie Sand in einem Stundenglas, und mit jeder Minute verging mehr von ihm.
Damit hatte er gerechnet, also achtete er lieber darauf, wann der Kristall ihn an patrouillierte Bereiche führte. Er wollte einen Wächter finden und dann losschicken, um Hilfe zu holen.
Leider war keiner auf seinem üblichen Posten. War etwas geschehen, das sie alle wegrief? Sein Plan stützte sich auf Verstärkung; sollte er Eden nicht finden können, müsste es jemand anders.
Entschlossenen Schrittes ging er weiter. Die Korridore kreuzten sich in einer Regelmäßigkeit, die jedem die Sinne verwirrte, während die Fackeln gerade hinreichend Licht spendeten, um den Schatten Gestalt zu verleihen. Die Steinmauern hauchten eine klamme Kälte aus.
Beim nächsten Posten, den er erreichte, rief Reynard. Das Echo seiner Stimme verklang in der Dunkelheit, davontreibend wie Staub. Die finsteren Gänge waren leer. Niemand war hier, der hätte helfen können.
Reynard blieb für einen Sekundenbruchteil stehen, ehe er sich selbst weiterzwang, während er die Entfernung zum nächsten Posten berechnete und wie weit er noch laufen konnte, bevor ihm die Kraft fehlen würde, um ein Portal in die Sicherheit zu öffnen.
Und wenn am nächsten Posten auch niemand war?
Er hatte sich für dieses Risiko entschieden. Er würde es durchstehen.
Bin ich ein Narr?
Ach, und wenn schon! Er hatte volltrunken Duelle ausgefochten, hatte gespielt und Vermögen verloren. Er hatte mit Frauen das Lager geteilt, die süchtig nach Wonnegiften gewesen waren, wohl wissend, dass der Tod der Nacht ihnen durchaus im buchstäblichen, nicht im poetischen Sinne hätte begegnen können. Er
war
ein Narr. Oder zumindest war er einer gewesen, bevor er in die Burg kam. Seither stellte er sein Glück nicht mehr auf die Probe.
Heute kannte er das wahre Antlitz der Gefahr. Er hatte alles verloren, als Folge der Entscheidungen, die er getroffen hatte.
Außer dieser einen. Er wählte, das kleine Mädchen zu retten, das ihm Hoffnung gab. Für sie
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