Seelenkuss / Roman
Balkon hinauf. Faszinierend war, dass dort eine Art Nachtschattenpflanze zu wachsen begann, die sich um die Ruinen rankte und sie zu Steinbrocken zerdrückte. Dabei gab es hier weder Sonne noch Wasser. Die süßlich duftende Kletterpflanze musste der wirren Burgmagie zu verdanken sein.
Eden streckte ihre Hand nach einer der rotgeäderten Trompetenblumen aus, doch der Prinz riss sie zurück. »Du solltest sie nicht anfassen! Ich weiß nicht, ob sie vielleicht gefährlich sind.«
Als sie sich zu ihm drehte, blieb ihm das Herz stehen. Dankbarkeit schimmerte in ihren Augen – und ein Anflug von Vertrauen. Bei diesem Anblick schmerzte ihm die Brust. Wenige sahen ihn jemals so an.
Eden steckte ihre Hände wieder in die Taschen und setzte sich auf den Stumpf einer Steinsäule. Erst als Miru-kai bemerkte, dass sie müde aussah, fiel ihm wieder ein, dass Menschenkinder viel Ruhe brauchten.
»Früher lebte hier ein Drache«, erzählte er und nickte zu dem Teich. »Aber sie mussten ihn wieder nach unten bringen, wo es wärmer ist.«
»Ein Drache?«, fragte die Kleine. »Meine Mom und Onkel Alessandro haben mal gegen einen Drachen gekämpft. War er das?«
»Ja, ich glaube, das war er.«
Sie schien einen Moment zu überlegen. »Ich dachte, Dunkelfeen sind böse.« Sie verzog das Gesicht. »Entschuldige, aber du bist eigentlich ganz nett, gar nicht so wie in den Geschichten, die ich kenne.«
Miru-kai blinzelte. So waren Kinder: stets offen und unverblümt. »Die Dunkelfeen sind Betrüger, aber auch wir sind Teil des natürlichen Kreislaufs. Manchmal sind wir das notwendige Chaos, das alte, tote Muster durchbricht. Manchmal geben wir Leuten, was sie verdienen, und sie nennen es Pech. Deshalb fürchten sie uns. Wir sind nicht böse, sondern nur unbequem.«
»Und die Lichtfeen?«
»Sie kleiden sich eleganter, sind jedoch nicht so anders. Sie halten sich ungern in der Nähe von Menschen auf.«
»Warum nicht?«
»Es ist kompliziert. Die letzte Lichtfee, mit der ich sprach, hielt die Menschen nach wie vor für ungehobelte Emporkömmlinge, die verdienten, ausgelöscht zu werden wie eine unerwünschte Ameiseninvasion.«
»Meinetwegen«, erwiderte Eden gähnend, »sollen sie nur kommen. Ameisen können zurückbeißen.«
Amüsiert neigte Miru-kai seinen Kopf zur Seite. »Mich erstaunt, wie ähnlich du deiner Mutter bist, und ich frage mich, ob Reynard weiß, worauf er sich einlässt.«
Ihre Stimmung, die er behutsam bessern konnte, fiel spürbar. Sie senkte den Kopf und zupfte an ihren Fingern. »Wieso hast du gesagt, dass meine Mom meine Großeltern umgebracht hat?«
»Das habe ich lediglich gehört«, lenkte er ein. »Wahrscheinlich stimmt es nicht.«
Sie sah ihn streng an. »Du hast gesagt, das war was mit einem Fluch.«
»Das erzählte man sich.«
Eden schürzte die Lippen und blickte zu dem dunklen Teich. »Ich hab ganz oft gefragt, aber keiner sagt mir, wie sie gestorben sind. Meine Großeltern waren doch nicht krank oder so, nicht?«
»Nein.«
»Und niemand hat gedacht, dass es was Magisches war?«
»Sehr wenige ahnten, dass etwas daran ungewöhnlich war.«
»Dann war es kein … Überfall oder so was?«
»Nein.«
Sie schwieg.
»Woran denkst du?«, fragte der Prinz unsicher.
»An was, das Mom mal gesagt hat. Von einem egoistischen Zauber, der ihre Kräfte kaputtgemacht hat.«
»Was war das für ein Zauber?« Kaum hatte er die Frage ausgesprochen, überkam Miru-kai der dringende Wunsch, das Thema zu wechseln. Dieses Gerede machte das Kind nur unglücklich. »Hast du bemerkt, wie süß diese Blüten riechen?«
»Er sollte Grandmas und Grandpas Auto eine Panne haben lassen, damit sie nicht zu früh nach Hause kommen und merken, dass Mom zu einem Konzert gegangen war, weil sie eigentlich auf Tante Holly aufpassen sollte.«
»Aha«, sagte Miru-kai. »Möchtest du die Wasserspeier sehen? Ihre Jungen sind wirklich recht lustig.«
»Ich will keine Wasserspeier oder Blumen!«, rief Eden aufgebracht, senkte ihre Stimme aber gleich wieder. »Ich will einfach nur die Wahrheit wissen.«
Miru-kai dachte sehr angestrengt nach. »Ein Zauber wie der, den du beschreibst, muss von zwei Leuten gewirkt werden. Falls deine Mutter versucht hat, ihn allein auszuführen, war er schwer zu beherrschen.«
»Dann war das der Zauber? Das mit dem Autounfall?«
Miru-kai blickte auf seine Hände. »Wie ich hörte, geriet das Automobil deines Großvaters außer Kontrolle.« Er sagte nicht, dass das Gefährt von einer Klippe
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