Seelenkuss / Roman
deutlichen Geruch von Erde und Moos aufwirbelte. Hier und dort blubberten Frischwasserquellen aus dem Boden, plätscherten über Steine und murmelten von einer neuen Zukunft.
Es machte Reynard rastlos wie einen Hengst, der es nicht erwarten konnte, über die Frühlingswiesen zu galoppieren.
Und es machte die Finsternis schwerer.
Sie erreichten das Tor zum Gehege. Es handelte sich um ein riesiges Bogengatter aus Gusseisen. Jeder der Stäbe war so dick wie Reynards Unterarm und von einer dichten Moosschicht bedeckt. Hinter dem Tor befand sich ein toter Wald: eine skeletthafte Ödnis von nackten Ästen, auf denen leuchtende Pilze wucherten. Es stank faulig, ähnlich einem verrottenden Holzstapel, in dem etwas Pelziges gestorben war.
Mac verlagerte unruhig sein Gewicht von einem Bein aufs andere. Rotes Dämonenfeuer schien in seinen Augen. Ja, Reynard verstand ihn. In dieser Ödnis lebten fremde Kreaturen, deren zumeist sehr lange Namen die Menschheit lange schon vergessen hatte. Hier wurden jene Dämonen gehalten, die zu gefährlich waren, um sich unter die übrigen Monster in der Burg mischen zu dürfen. Bei Gott, nicht einmal die Trolle trauten sich an dem rostigen Schloss vorbei, das die beiden Hälften des Tors zusammenhielt! Also, wer könnte das Schloss geöffnet haben, das nun als zerkauter Klumpen auf dem Boden lag?
Die Spannung zwischen Reynards Schulterblättern stach ihm ins Rückgrat. Beide Männer sahen durch die Gitterstäbe. Das Tor war so hoch, dass Reynard sich klein wie ein Schuljunge vorkam. Jemand hatte das Tor mit einer dicken Kette und einem neuen Schloss gesichert. Letzteres glänzte unbedarft optimistisch.
»Nett hier!«, bemerkte Mac. »Super Location für ein romantisches Schäferstündchen.«
»Ja, sofern du willst, dass es dein letztes wird. Wenn dich kein Monster erledigt, wird es Constance gewiss.«
Mac lachte bei der Erwähnung seiner Frau. »Ja, das ist sogar für einen Vampir zu schaurig.«
»Vor allem für eine Vampirin, die so gern einkauft.« Reynard trat einen Schritt zurück und blickte sich misstrauisch um. »Keine Boutique in Sicht.«
Es war insgesamt nicht viel zu sehen. Noch mehr tote Bäume, Felsbrocken, Staub. Kein Wunder, dass die Kaninchenbestie in die Freiheit geprescht war! Reynard gestikulierte ratlos. »Ich sehe keinerlei Hinweise. Hier ist nichts, das uns verraten könnte, wer das Schloss aufgebrochen hat.«
Er fühlte die Hitze, die von Mac ausströmte und ein sicheres Anzeichen war, dass der Feuerdämon die Geduld verlor.
Mac fluchte. »Ich will jemanden verhaften!«
»Und ich den Kopf von jemandem auf einem Speer. Ich hatte schon ewig keinen aufgespießten Kopf mehr.«
»Ja, von der englischen Küche hörte ich.« Mac setzte sich auf einen der großen Felsblöcke. »Mist!«
»Fürwahr.«
Der Dämon seufzte frustriert. »Das hier ist ein Tatort. Ich könnte das aufgebrochene Schloss auf Fingerabdrücke überprüfen lassen, aber ich fürchte, wir finden keine Übereinstimmung in der Datenbank.«
Einen Moment schwiegen sie beide, ehe Mac wieder sprach. »Tja, ich habe versucht, die Sicherheitsmaßnahmen ein bisschen zu lockern, die Verwaltung zugänglicher zu machen. Ich dachte immer, wenn man die Leute behandelt, als würden sie sich so benehmen, wie man es von ihnen erwartet, tun sie’s auch. Leider bin ich mir nicht sicher, ob das in der Burg funktioniert.«
»Jede Veränderung ist ein langsamer Prozess«, sagte Reynard. »Du nimmst einen Platz ein, von dem aus über Jahrtausende brutale Macht herrschte, und versuchst, die Aufklärung herbeizuführen. Das kann Jahrzehnte dauern, und du bist erst seit sechs Monaten hier.«
»Falls die meinen, sie kommen mit diesem Dreck davon«, raunte Mac und trat nach dem aufgebrochenen Schloss, »überlege ich mir meine Herangehensweise noch mal.«
Etwas zurrte an Reynards Sinnen, so dass er sich über die Schulter umsah. Eine Gestalt kam auf sie zu, gelassen wie ein Spaziergänger. An einem Ort, wo jeder Stein ein Versteck für Todbringendes darstellen konnte, stank eine derartige Gelassenheit förmlich nach Ärger. Reynard hob seine Muskete.
Mac sprang auf. »Wer ist das?«
Reynard blickte den Lauf seiner Waffe hinunter und nahm sich die Zeit, den Kopf und die Schulterpartie der Gestalt zu betrachten. Was er sah, ließ jede Faser in seinem Leib erstarren.
Obgleich die Burg ein Gefängnis war, gab es wenige Zellen. Mit einigen Ausnahmen bewegten sich die Insassen frei, formten Bündnisse und Feindschaften,
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