Seelenkuss / Roman
Vorgesetzter, an die Reynard gewöhnt war, aber Mac arbeitete sehr strukturiert.
Reynard lächelte matt. »Ich würde meinen seit zweieinhalb Jahrhunderten überfälligen Lohn wetten, dass es eine Verschwörung in der Burg gibt und Miru-kai mittendrin steckt.«
Die beiden Männer sahen einander an. Da war immer noch loderndes Dämonenfeuer in Macs Augen.
»Ja«, sagte er. »Okay. Also, zuerst mal, wer oder was steckt noch in dem toten Wald, das entkommen sein könnte? Und zwar rede ich hier von höher entwickelten Wesen, vorzugsweise mit Händen. Es muss eines sein, das als Dieb fungieren könnte, eventuell unter Anleitung unseres Dunkelfeenfreundes.«
»Ein Dämon wäre am wahrscheinlichsten, doch der Wald ist riesig. Dort gibt es Tausende von Höllengeburten und keine Möglichkeit nachzusehen, ob eine fehlt.«
Mac schnaubte unzufrieden, und Reynard las in seinem Gesicht, dass er »Dämoneninventur« auf seine geistige Merkliste setzte.
»Mag sein, dass ein Dämon als Erster hinausgelangte und dann heute der Phouka«, fügte Reynard hinzu.
»Ja, gut möglich, denn irgendjemand musste den Phouka freilassen. Ein untergeordneter Dämon muss das Schloss des Tresorraums geöffnet haben. Er brauchte aber einen Zauberer, der ihm sagte, wie es geht. Und dann waren Beziehungen nach draußen nötig. Denkbar wäre, dass ein oder zwei Leute die Nummer durchgezogen haben, aber das bezweifle ich sehr.«
Reynard überlegte. »Und in der Außenwelt gibt es einen Sammler sowie einen Vampir-Attentäter, der Ashe Carver jagt. Zwei sehr unterschiedliche Motive. Folglich dürften wir es auch jenseits dieser Mauern mit mehreren Akteuren zu tun haben.«
»Siehst du, ich sagte ja, dass du Hilfe brauchst, wenn du alle Fragen beantworten willst.« Mac murmelte einen Fluch vor sich hin. »Ich wette, dass wir hier erst die Spitze eines bösen alten Eisbergs erwischt haben.«
Sie gingen weiter. Endlich bekam Reynard wieder das Gefühl, ein Ziel vor Augen zu haben. »Wenn ich mit den Wachen fertig bin, fange ich an, die bekannten Diebe zu befragen.«
»Alter, ich kümmere mich um den Kram in der Burg. Du musst nach draußen und deine Seele finden. Wir wissen nicht genau, wann die Urne gestohlen wurde, und lange kann es nicht her sein, weil es dir noch ganz okay geht, aber …«
Reynard erstarrte, denn diese Worte trafen ihn wie ein Schwerthieb. »Nach draußen?«
»Wenn die Trennung von deiner Urne das Problem ist, musst du sein, wo sie ist. Hat sie also die Burg verlassen, musst du ihr folgen.«
»Wunderbar. Einfach wunderbar! Wie soll ich wohl den vermaledeiten Topf in einer Welt aufspüren, die mir gänzlich fremd ist?«
»Bitte um Hilfe! Wir haben Freunde. Frag Caravelli … Holly!«
Freiheit.
Auf einmal wurde Reynard eiskalt, und Gänsehaut bildete sich auf seinen Armen. Erregung oder Furcht oder beides. Bliebe er zu lange außerhalb der Burg, besäße er dann noch die Kraft, zum ewigen Dienst in dem dunklen Kerker zurückzukehren? Oder triebe ihn so viel Freiheit in den Wahn, wie bei dem armen Killion? »Ein paar freie Tage hatte ich mir anders vorgestellt.«
»Ist das Leben nicht spaßig?«
Reynard fluchte. »Ich erledige die Arbeit. Das tue ich immer.«
Erst als seine Panik schwand, wurde ihm klar, wo sie sich befanden. Dies war die Stelle, an der Ashe mit ihrem Gewehr gewacht hatte, während sie auf Hilfe warteten und Reynard blutend auf dem Boden lag. Eigentlich sah sie nicht anders als alle anderen Ecken aus, an denen sich zwei Korridore kreuzten. Einzig Reynards Erinnerungen machten sie anders. Am lebendigsten war jene an den Schmerz von Brans Axthieb in seinen Bauch, aber er entsann sich auch Ashes kühlender Berührung. Sie hatte ihm Wasser gegeben, seinen Kopf gehalten. Es war unendlich lange her, seit jemand ihm Mitgefühl gezeigt hatte, und als er es am dringendsten brauchte, war sie dort gewesen.
Jedes weitere Detail stellte nichts als unnützes Beiwerk seiner Einbildungskraft dar. Was zählte, war, dass sich ausnahmsweise jemand seiner angenommen hatte. Dabei entsprach sie keineswegs der Art Frau, die er früher gemocht hatte, ganz und gar weich und süß. Ashe war vielmehr die richtige Frau für den fraglichen Moment gewesen: mutig, stark und entschlossen.
»Denkst du, Ashe Carver wäre bereit, mir zu helfen?«, fragte Reynard vorsichtig.
Mac öffnete den Mund, als ein Bellen durch die Steingänge donnerte. Gleichzeitig preschten beide Männer auf die Quelle des Lärms zu.
»Das war menschlich!«,
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