Seelenkuss
im Gedränge zu verschwinden. Auch der junge Jellen hatte sich, verkleidet als Handelsknecht, in Richtung der Stallungen abgesetzt.
Dank Réfens Plan war es ein Leichtes gewesen, in den Palast zu gelangen und auf dem Weg hierher die Wachen zu umgehen– bis diese Kerle plötzlich vor ihnen gestanden hatten. Ungerührt trat er über eine der beiden Leichen am Boden hinweg. Sie hatten vereinbart, dass keiner von Réfens Männern getötet oder schwer verletzt werden durfte. Von Soldlingen war dabei keine Rede gewesen. Dass die Krieger der Garde, die den Gefangenen bisher bewacht hatten, aus welchen Gründen auch immer durch Soldlinge ersetzt worden waren, machte das Ganze auf gewisse Weise leichter.
Er nickte Danen knapp zu und stieg zusammen mit Keraden und Setten leise die Stufen zu den tiefer liegenden Kerkerzellen hinunter. Ein Lichtschein und ein Schatten verrieten den Wächter– und machten ihn zu einem leichten Ziel für Keradens Dolch. Aus reiner Gewohnheit bewegten sie sich vollkommen geräuschlos durch den Gang. Sie machten sich nicht die Mühe, den Soldling nach den Schlüsseln für die Zellentür zu durchsuchen. Dennoch schwang sie einen Augenblick später lautlos nach innen. Mit einer übertrieben tiefen Verbeugung ließ Setten ihm den Vortritt, seine Schlosshaken noch immer in der Hand.
Die Kälte, die ihm entgegenschlug, ließ Noren überrascht Atem holen. Wie sollte ein lebendes Wesen mehr als ein paar Stunden in diesem Loch überstehen? Er hob die Fackel höher und betrat das Verlies. Wie Réfen gesagt hatte, lag der Gefangene in der hinteren Ecke der Zelle, Arme und Beine eng an den Leib gezogen. Reiffäden spannten sich zwischen den Gliedern seiner Ketten. Ein kurzes Wort rief Setten herein, dann kniete er sich neben dem Mann auf den eisigen Steinboden. Wären die fahlen Dampfwolken nicht gewesen, zu denen die schwachen Atemzüge des Jarhaal gefroren, hätte er ihn für tot gehalten. Vorsichtig berührte er ihn an der Schulter. Réfen hatte gesagt, der Geist des Gefangenen sei verwirrt. Er hatte erlebt, wie der junge Ayren reagierte, wenn man sich ihm zu rasch näherte und ihn erschreckte. Es würde alles nur schwerer machen, wenn der Mann sich aus Angst gegen sie wehren würde. Doch der Jarhaal rührte sich auch dann nicht, als Noren ihn vorsichtig auf den Rücken drehte. Mit einem leisen Klirren rutschten die Ketten auf den Boden. Réfen hatte recht gehabt. Eisenringe, keine Bandeisen. Und sie wiesen tatsächlich weder ein Schloss noch ein Scharnier auf. Setten hatte sich neben ihm auf die Knie niedergelassen. Sie tauschten einen kurzen Blick, dann löste der fuchsgesichtige Mann die Riemen des Leinensackes und förderte Meißel und Hammer zutage, während Noren den Arm des Gefangenen zur Seite zog und die Kette auf dem Boden zurechtlegte. Das zerrissene Hemd glitt zur Seite und enthüllte den hässlichen Schnitt auf der Brust des Mannes, der sich quer durch die kunstvollen Linien fraß, die seine Haut schmückten. Fahlgrüner Schorf, der aussah, als würde er bei der geringsten Bewegung aufbrechen, hatte die Wunde verschlossen.
Ein heller Misston klang durch die Zelle, als Setten einen Augenblick später den Hammer auf den Kopf des Meißels niederschmetterte, den er auf den Eisenring um das Handgelenk des Gefangenen gesetzt hatte. Die Meißelklinge rutschte von dem Eisen ab, ohne auch nur einen Kratzer darauf zu hinterlassen. Ein Fluch entwich dem kleinen Mann. Erneut setzte Setten den Meißel an– mit dem gleichen Erfolg. Einen Moment waren beide verblüfft, dann befahl Noren ihm mit einem Knurren, es noch einmal zu versuchen. Dieses Mal platzierte Setten den Meißel auf dem Kettenglied direkt hinter dem Eisenring und ließ den Hammer niederfahren. Die Kerbe, die deutlich sichtbar zurückblieb, entlockte ihm ein befriedigtes Grunzen. Es brauchte fünf weitere harte Hiebe, dann barst das Metall mit einem Knirschen. Noren packte die andere Hand des Jarhaal– und sah, dass der Mann die Augen geöffnet hatte. Helles Silber mit Sodijansplittern, eingefasst von einem dunklen Dämonenring, stumpf und leer, blickte durch ihn hindurch. Auch als er mit den Fingern direkt vor seinem Gesicht schnippte, änderte sich ihr Ausdruck nicht. In einem Anflug von Mitleid schüttelte Noren den Kopf. Er hatte erwartet, den Jarhaal in einem ähnlichen Zustand zu finden wie Ayren. Doch der Junge reagierte wenigstens auf das, was um ihn herum vor sich ging, auch wenn es ihn meist nur dazu brachte, sich wimmernd in
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