Seelenlos
Kojoten, Füchse, Waschbären, Hasen und diverse Nagetiere. Er genießt die Abwechslung.
»Männchen dieser Spezies wiegen sechzig bis siebzig Kilo«, informierte ich Datura. »Am liebsten jagen sie im Schutz der Nacht.«
In ihrem Blick lag wieder das mädchenhafte Staunen, das ich zum ersten Mal gesehen hatte, als wir gemeinsam die Treppe ins Kasino hinuntergegangen waren. Es war der einzige sympathische, arglose Ausdruck, über den sie verfügte. »Wirst du es mir zeigen?«, fragte sie.
»Selbst wenn ein Berglöwe bei Tageslicht unterwegs ist, statt zu ruhen, sieht man ihn nur selten, weil er sich so ruhig verhält. Er bewegt sich meist, ohne dass man ihn hören kann.«
So erregt war sie sonst bestimmt nur, wenn sie an einem Menschenopfer teilnahm. »Diese Fährte – die stammt also tatsächlich von dir, ja?«
»Berglöwen sind scheue Einzelgänger.«
»Mag sein, aber mir wirst du es doch zeigen!« Sie hatte Wunder verlangt, fabelhaft unmögliche Dinge, eisige Finger an ihrem Rücken. Nun meinte sie, ich würde ihr das alles endlich verschaffen. »Du hast diese Fährte gar nicht erzeugt, um mich hierherzulocken. Du hast dich verwandelt … und die Spuren selber gemacht!«
Hätten Datura und ich den Standort getauscht, so hätte ich den Puma im Rücken gehabt und nicht gemerkt, wie er auf mich zuschlich.
So verkehrt die Natur mit ihren giftigen Pflanzen, Raubtieren, Erdbeben und Überschwemmungen auch sein mochte, manchmal machte sie es richtig.
52
Imposante Pfoten mit deutlich ausgeprägten Zehen, so langsam und behutsam aufgesetzt, dass der Teppich aus Asche, fein wie Puder, von ihnen überhaupt nicht aufgewirbelt wurde.
Ein wunderschönes Fell. Lohfarben, an der Spitze des langen Schwanzes in ein dunkles Braun übergehend. Braun waren auch die Rückseite der Ohren und die Seiten des Maules.
Hätten Datura und ich den Standort getauscht, so hätte sie das Nahen des Berglöwen mit kaltem, amüsiertem Blick verfolgt und meine Ahnungslosigkeit genossen.
Obwohl ich versuchte, mich auf ihr Gesicht zu konzentrieren, wurde ich immer wieder von der Katze abgelenkt. Allerdings war ich nicht amüsiert, sondern von einer schaurigen Faszination und einem zunehmenden Grauen ergriffen.
Mein Leben lag in Daturas Hand, und die einzige Zukunft, mit der ich sicher rechnen konnte, dauerte nur einen Sekundenbruchteil – die Zeit, die eine Kugel brauchte, um von der Mündung ihrer Waffe zu mir zu gelangen. Zugleich lag jedoch auch ihr Leben in meiner Hand, und ich hatte das Gefühl, als wäre mein Schweigen angesichts des anschleichenden Raubtiers nicht völlig dadurch gerechtfertigt, dass man mir praktisch die Pistole auf die Brust setzte.
Wenn wir uns immer auf das Chi verlassen, mit dem wir geboren sind, dann wissen wir in jeder Lage, was das Richtige ist,
nicht für unser Bankkonto und unser Ego, sondern für unsere Seele. Von diesem im Tao beheimateten Chi werden wir durch Eigennutz, niedrige Gefühle und üble Leidenschaften abgelenkt.
Ich kann, glaube ich, ehrlich sagen, dass ich keinen Hass auf Datura empfand, obwohl ich durchaus Grund dazu hatte, aber Verachtung empfand ich durchaus. Unter anderem war sie mir zuwider, weil sie die bewusste Ignoranz und den mutwilligen Narzissmus verkörperte, die so typisch für unsere unruhige Zeit sind.
Sie verdiente es, ins Gefängnis zu kommen. Ich fand sogar, sie hatte die Hinrichtung verdient, und wenn ich in extremer Gefahr war und damit mich selbst oder Danny retten konnte, dann hatte ich das Recht, ja sogar die Pflicht, sie zu töten.
Vielleicht verdient jedoch niemand einen so grässlichen Tod wie den, von einem Raubtier zerfleischt und bei lebendigem Leib gefressen zu werden.
Anders gesagt: Kann man es, unabhängig von den Umständen, wirklich rechtfertigen, ein solches Schicksal zuzulassen, wenn sich das mit einer Pistole bewaffnete Opfer retten könnte, falls man es warnt?
Tag für Tag suchen wir uns einen Weg durch ein Gestrüpp ethischer und moralischer Fragen, auf Pfaden, die sich ständig verzweigen. Dabei verlaufen wir uns oft.
Ist die Anordnung von Pfaden vor uns so verwirrend, dass wir keine Wahl treffen können oder wollen, dann können wir zwar auf ein Zeichen hoffen, das uns leitet. Verlassen wir uns jedoch ausschließlich auf solche Zeichen, so führt das eventuell dazu, dass wir uns allen moralischen Verpflichtungen entziehen und daher äußerst negativ beurteilt werden.
Wenn ein Leopard im Schnee des Kilimandscharo, wo ihn die Natur nie
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