Seelenlos
hatte.
Natürlich hätte man mir vorwerfen können, dass diese Analyse nicht ganz unvoreingenommen war. Schließlich war es mein Bauch, der da bedroht wurde. Allerdings ist es immer leicht, anderen Leuten ihre Vorurteile vorzuwerfen, wenn man nicht selbst aufgeschlitzt zu werden droht.
Jedenfalls hatte Datura ihre Wahrheit in einem Mischmasch okkulter Vorstellungen gefunden. Ihre Schönheit, ihr starker Machtwille und ihre Skrupellosigkeit lockten Männer wie André und Robert an, für die dieses abstruse System magischen Denkens nur eine sekundäre Wahrheit darstellte. An erster Stelle stand für sie Datura selbst.
Während ich zusah, wie sie ruhelos im Zimmer herumschlich, fragte ich mich, wie viele Mitarbeiter ihrer geschäftlichen Unternehmungen – des Pornoversands und der Telefonsexnummer – allmählich durch ihre Jünger ersetzt worden waren. Andere, mit leerem Herzen, waren vielleicht bekehrt worden.
Wie viele Männer hatte sie wohl in der Hand und konnte ihnen befehlen, in ihrem Namen zu töten? So merkwürdig mir die beiden da auch vorkamen, einmalig waren sie zweifellos nicht.
Wie wohl eine Frau sein musste, um ein weibliches Gegenstück zu André und Robert darzustellen? Auf jeden Fall so, dass man ihr kaum die eigenen Kinder überlassen würde, wenn sie sich am Betrieb einer Tagesstätte versuchte.
Wenn sich eine Gelegenheit für mich ergab, zu fliehen, die Bombe zu entschärfen, Danny hier herauszuschaffen und Datura der Polizei auszuliefern, würden die ihr ergebenen Fanatiker mich hassen wie die Pest. Waren sie nur ein kleiner Kreis, so zerstreuten sie sich wahrscheinlich rasch. Sie würden einen anderen abstrusen Glauben finden oder wieder
in ihren früheren Nihilismus verfallen und mich bald vergessen.
Handelte es sich bei Daturas lukrativem Unternehmen jedoch um das Zentrum einer ganzen Sekte, dann würde ich mehr Vorsichtsmaßnahmen treffen müssen, als einfach in eine neue Wohnung umzuziehen und meinen Namen in Odd Smith zu ändern.
Offenbar gaben die durch den Himmel schneidenden Blitze Datura zusätzlich Energie, denn sie zog eine Handvoll langstielige Rosen aus einer der Vasen und peitschte damit die Luft, während sie weiter von ihren paranormalen Erfahrungen berichtete.
»In Paris, im Souterrain eines Gebäudes, das der Gestapo während der Besetzung Frankreichs als Hauptquartier diente, hat ein Gestapo-Offizier namens Gessel bei seinen Verhören viele junge Frauen vergewaltigt. Ausgepeitscht hat er sie auch und manche zum Vergnügen umgebracht.«
Purpurrote Blütenblätter stoben durch die Luft, als sie Gessels Brutalität mit einem Schwung der Rosen untermalte.
»Irgendwann hat eines seiner verzweifelten Opfer sich gewehrt. Es hat ihm die Zähne in die Kehle geschlagen und dabei die Halsschlagader aufgerissen. Gessel ist in seiner eigenen Folterkammer krepiert, wo er noch heute spukt.«
Eine der malträtierten Blüten löste sich von ihrem Stängel und landete in meinem Schoß. Erschrocken wischte ich sie zu Boden, als wäre es eine Tarantel.
»Auf Einladung des Mannes, dem das Gebäude derzeit gehört, habe ich dieses Souterrain aufgesucht. Eigentlich ist es ein tiefer Keller, zwei Stockwerke unter dem Straßenniveau. Wenn eine Frau sich dort auszieht und darbietet … ich habe Gessels Hände am ganzen Körper gespürt – gierig, kühn, fordernd. Er ist in mich eingedrungen. Aber ich konnte ihn nicht sehen. Dabei
hatte man mir versprochen, dass ich ihn sehen würde, als voll ausgeprägte Erscheinung!«
Mit jäher Wut warf sie die Rosen auf den Boden und zertrat eine der Blüten mit der Ferse.
»Ich wollte diesen Gessel sehen. Spüren konnte ich ihn gut. Kraftvoll. Fordernd. Seinen immerwährenden Zorn. Nur sehen konnte ich ihn nicht. Dieser letzte, höchste Beweis, das Sehen , bleibt mir ständig versagt!«
Ihr Atem ging flach und rasch, und ihr Gesicht glühte, aber wohl nicht, weil das heftige Gestikulieren sie erschöpfte, sondern weil ihre Wut sie erregte. Sie stellte sich vor Robert, der mir gegenüber am Tisch saß, und streckte ihm die rechte Hand hin.
Er führte die Handfläche an den Mund. Im ersten Augenblick dachte ich, er würde ihr die Hand küssen, was für ein derart wildes Paar eine seltsam zarte Regung gewesen wäre.
Ein leises, saugendes Geräusch strafte die scheinbar guten Manieren Lügen.
Am Fenster wandte André sich von dem Unwetter ab, das ihn bisher in den Bann geschlagen hatte. Tanzendes Kerzenlicht erhellte sein Gesicht, ohne dessen harte
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