Seelennacht
lediglich ein vages Unbehagen, ein Prickeln im Nacken und ein dumpfer Kopfschmerz, und wenn es stärker zu werden schien, war kaum zu unterscheiden, ob der Auslöser die Leiche war, meine Nerven oder einfach die Zugluft.
Ich hatte keine Ahnung, welche Art von Betrieb einmal in diesem Industriegebäude gewesen war. Buffalo ist voller verlassener Gebäude. Man braucht nur die Landstraße entlangzufahren, um sie zu sehen – bröckelnde Fassaden, vernagelte Fenster, leere Höfe. Dieses hier war nicht größer als ein Haus und hatte Räume wie ein Haus, obwohl es von außen nicht so aussah. Innen war es voller Schutt – schimmelnde Pappkartons, Holztrümmer, zerbrochene Möbelstücke, Müllhaufen.
Ich bin mir sicher, dass ich den Toten auch ohne meine Gabe gefunden hätte, denn das Haus hatte nur acht Räume. Ich setzte meine Kräfte zu Trainingszwecken trotzdem ein und fand ihn schließlich in einer der hintersten Ecken. Von der Türöffnung aus sah er aus wie ein Bündel Lumpen. Im Näherkommen sah ich etwas Weißes aus den Lumpen herausragen – eine Hand, das Fleisch beinahe verwest, so dass fast nur noch Knochen zu sehen war. Je näher ich herankam, desto mehr erkannte ich – ein Bein, dann einen Schädel. Die Leiche war fast skelettiert.
Ich stellte fest, dass die Lumpen tatsächlich Kleidung waren und dass die gar nicht so zerlumpt, sondern einfach nur um die Reste des Körpers herum zusammengesackt war. Die Leiche trug Stiefel, Handschuhe, Jeans und ein Sweatshirt mit einem verblichenen Logo darauf. Ein paar ergraute Haarsträhnen lugten unter der Kappe hervor. Weder Kleidung noch Körper wiesen die Leiche als männlich oder weiblich aus, aber ich identifizierte sie instinktiv als »er«.
Zu irgendeinem Zeitpunkt musste sich dieser Mensch im vergangenen Winter vor der Kälte in dieses Gebäude geflüchtet haben, sich in der Ecke zusammengerollt haben und nie wieder aufgewacht sein. Wir konnten unmöglich die Ersten gewesen sein, die ihn gefunden hatten. Hatten alle anderen Leute einfach einen Bogen um ihn gemacht, so wie wir es gerade taten? Kein Gedanke daran, die Behörden zu informieren, damit er geborgen und identifiziert und bestattet werden konnte?
Stand er auf irgendeiner Vermisstenliste? Wartete jemand darauf, dass er nach Hause kam? Hatten sie eine Belohnung ausgesetzt, so wie mein Vater es getan hatte? Wenn ja, dann war es sicherlich nicht ganz so viel. Eine
halbe Million Dollar.
Das würde jeden Spinner in Buffalo auf die Beine bringen. Was hatte sich Dad eigentlich dabei gedacht?
Er hatte wahrscheinlich gar nicht nachgedacht. Er wollte einfach, dass ich unversehrt nach Hause kam. Ich blinzelte, damit die Tränen fortgingen. Na, toll. Nicht einmal, wenn ich eine Leiche untersuchte, konnte ich aufhören, mir Sorgen um Dad zu machen.
Was war nun also mit diesem Typ hier? Irgendjemand musste sich seinetwegen doch auch Sorgen machen. Wenn ich Kontakt zu seinem Geist aufnehmen konnte, dann konnte ich vielleicht eine Botschaft überbringen. Aber ich durfte nicht riskieren, ihn versehentlich in seine Leiche zurückzubeschwören, wie ich es bei den Fledermäusen getan hatte.
Ein leichter Schlag auf die Schulter ließ mich herumfahren.
»Tut mir leid«, sagte Simon. »Ich dachte, du hast mich reinkommen hören. Ich sehe schon, du hast unseren Mitbewohner gefunden. Versuchst du, mit ihm zu reden?«
»Ich versuche,
nicht
mit ihm zu reden.«
»Sieht so aus, als läge der schon eine ganze Weile hier.« Er ging neben der Leiche in die Hocke. »Wir könnten CSI spielen und versuchen herauszufinden, wie lang er schon tot ist. Ich sehe keine Viecher.«
»Falsche Jahreszeit.«
Er schlug sich gegen die Stirn. »Ich Depp. Natürlich. Noch zu kalt hier drin. Er ist mit Sicherheit schon ein paar Monate tot, also kein Viehzeug. Ich hätte das wissen sollen. Derek hat vor ein paar Jahren mal mit einem Experiment über Würmer und Verwesung bei so einem naturwissenschaftlichen Schulwettbewerb mitgemacht.« Er sah meinen Gesichtsausdruck und fügte hinzu: »Yeah, war ziemlich eklig. Irgendwie aber auch interessant, aber erwähn’s ihm gegenüber lieber nicht. Er war sauer. Hat in der gesamtstädtischen Auswertung bloß den zweiten Platz gemacht.«
»Was für ein Loser,« sagte ich mit einem ironischen Grinsen und trat zurück, als Simon sich wieder aufrichtete. »Ich bin hier fertig, also gehe ich lieber ein bisschen auf Abstand. Ich und Leichen, das ist keine gute Kombination.« Ich erwog, Simon von den
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