Seelenqual: Peter Nachtigalls zweiter Fall (German Edition)
aussteigen, nicht den größten Fehler ihres Lebens machen und wieder zu ihm zurückkehren. Seine Stimme klang fremd und heiser. Und noch immer hastete er diesen endlosen Bahnsteig entlang.
Doch Jule lachte nur. Winkte ihm lässig zu und lachte. Machte sich über ihn und seine verzweifelten Versuche sie zu retten lustig!
Und dann – ganz plötzlich – sah er IHN! Er war schon zur Stelle gewesen, hatte im Zug auf sie gewartet um ihm nun grinsend das Einzige zu nehmen, was ihm noch geblieben war: seine Tochter. Hilflos musste er mit ansehen, wie Emile Couvier seine Arme um Jule schlang und sie ihn verzückt anstrahlte. Da wusste er, dass er verloren hatte.
Ohne es zu bemerken, hatte er unvermittelt das Ende des Bahnsteigs erreicht und stürzte über die Kante in eine bodenlose Finsternis.
Mit einem kräftigen Ruck setzte er sich in seinem Bett auf. Er keuchte noch immer. Sein Shirt klebte ihm am Körper und sein Bett wirkte klamm. Ächzend schob er sich über die Bettkante und angelte im Dunkeln nach seinen Hausschuhen. Minutenlang hockte er am Rand der Matratze, hatte die Arme in die Oberschenkel gestützt und hielt mit den Händen den Kopf fest umfasst, als habe er Angst, er könne ihm verloren gehen. Törichter, alter Vater, schalt er sich, du bist nicht besser als diese Schießbudenfiguren im Fernsehen. Du benimmst dich schon wie einer dieser lächerlichen Serienpapas, die ständig mit Tränen in den Augen ihre heranwachsenden Töchtern nachstarren. Reiß dich zusammen!
Müde erhob er sich und tastete sich leise in die Küche. Das Wasser aus dem Hahn war nicht so kalt, wie er es sich gewünscht hätte, wie immer im Sommer. Vielleicht sollte ich am Wochenende mal wieder was mit Sabine unternehmen, überlegte er. Seine kleine Schwester stand mit beiden Beinen fest im Leben und würde ihm schon die Leviten lesen, wenn er sich bei ihr ausweinen wollte. Genau das Richtige im Moment, ich denke, ein kleiner Tritt könnte mir nicht schaden, spann er den Gedanken weiter. Er würde sie, seinen Neffen Leander und dessen kleine Schwester zu einem Ausflug zu einem der Seen um Cottbus einladen, beschloss er. Eine Dampferfahrt auf dem Senftenberger See wäre doch sicher eine gute Idee und dazu könnten sie selbst Tante Erna mit ihren 84 Jahren noch begeistern.
Auf dem Rückweg in sein Schlafzimmer stieß er gegen Jules Rucksack. Die Woge der Erleichterung, die ihn erfasste, erschreckte ihn. Sie war nicht weg, war sogar nach Hause gekommen und morgen früh könnten sie zusammen frühstücken. »Du bist ja völlig fixiert!«, flüsterte er sich böse zu. »Guck bloß, dass du das wieder in den Griff kriegst!«
Irgendwie war es Casanova gelungen sich in Nachtigalls Zimmer zu schmuggeln. Nun lag er in seiner ganzen Pracht vor dem Bett, tat, als schliefe er fest und schnurrte leise. Der Hauptkommissar schmunzelte. Er hatte doch die Tür hinter sich geschlossen – oder? Er schüttelte den Kopf. Schon lange hatte er den Verdacht, der Kater könne durch Schlüssellöcher schlüpfen oder sich unter den verschlossenen Türen durchschleichen. Anders war sein überraschendes Auftauchen an den unterschiedlichsten Orten nicht zu erklären.
Als er versuchte wieder einzuschlafen schreckte ihn der Gedanke an Friederike Petzold auf. Sie mussten unbedingt mit dem leiblichen Vater Kontakt aufnehmen! Hatte der möglicherweise auch ein Tatmotiv – und wenn ja, welches? Über das Verhältnis von Friederike zu ihrem Vater hatten sie sich noch gar keine Gedanken gemacht, das war ein echtes Versäumnis!
Noch lange lag er unruhig wach und lauschte auf das gleichmäßige Schnarchen des Katers.
29
Denk nach!
Ich bin so müde.
Lara? Könnte es wohl sein, dass diese dumme Schnepfe doch noch bemerkt hat, was ich mit ihr vorhabe? Unmöglich! Die hat mir doch auch damals diese Wahnsinnsgeschichte abgenommen – ich hätte nie geglaubt, dass einer allein so blöd sein kann. Aber es scheint doch vorzukommen.
Lara! Behütetes und geliebtes Mäuschen! Keine Geschwister, niemand, mit dem sie alles teilen muss! Jedes Körnchen Liebe, das diese vernarrten Eltern übrig hatten, war für sie bestimmt!
Dabei wusste sie gar nicht, wie gut sie es hatte, bei mir sieht die Sache doch ganz anders aus. Überall andere, die erfolgreicher um Anerkennung, Liebe und Aufmerksam buhlten als ich. Und jetzt schenkt diese neue Tusse von Papa ihm auch noch einen eigenen Balg, da ist Papilein aber megaglücklich und wird sich nur noch seiner neuen Brut zuwenden.
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